Die Moralisten
soll mich mit einem Krüppel abgeben, der nicht gehen kann und nicht mehr dafür taugt, wofür ein Mann eigentlich taugen soll?« Die Liebste packte Ileana und schüttelte sie wütend. »Mit diesem Geld kannst du nach Nizza zu deinen Freunden fahren, wir können sechs Monate davon leben, und dein Vater kann sich endlich die Operation leisten, die er schon so oft hinausgeschoben hat.«
Ileana sank in ihren Sessel. »Ich mach’s nicht. Ich kann es nicht. Allein bei dem Gedanken wird mir übel.«
Die Liebste lachte verächtlich. »Wovon redest du eigentlich? Daß ich nicht lache! Spiel mir hier nicht die unschuldige kleine Jungfrau vor. Ich weiß genau, was da auf deiner vornehmen
Schule alles vor sich gegangen ist. Du tust jetzt, was ich sage, oder ich packe auf der Stelle meine Koffer, und du kannst dann deinem Vater erklären, warum ich es nicht mehr mit ihm ausgehalten habe. Du wirst ja sehen, was er zu deinem Benehmen zu sagen hat - wenn er dir überhaupt glaubt!« Sie machte kehrt und verließ das Zimmer.
Ileana blieb einen Augenblick sitzen, dann stand sie langsam auf und ging den Korridor hinunter. Unterwegs stieß sie gegen einen Tisch. Aus dem Wohnzimmer rief ihre Mutter.
»Bist du’s, Ileana?«
»Ja«, sagte sie.
»Bist du bitte so lieb und bringst uns noch etwas Eis?«
»Ja, Liebste«, sagte Ileana. Das falsche Lachen ihrer Mutter drang bis zu ihr in die Küche.
Sie hörte ein leises Geräusch und fuhr im Bett hoch. Sie warf einen Blick auf ihre Mutter. Die Liebste schlief. Einen Arm hatte sie über ihr Gesicht gelegt, im Wohnzimmer war es hell. Der Amerikaner lag neben ihr auf dem Bauch und schnarchte.
Da war wieder das Geräusch. Ein leises Quietschen von den Rädern des Rollstuhls. Sie schrak zusammen. Hastig berührte sie ihre Mutter.
Die Liebste setzte sich auf, rieb sich die Augen. »Was, was?«
»Schnell, Mutter«, flüsterte sie, »nach nebenan! Schnell!«
Die Liebste war jetzt hellwach, sie machte ein ängstliches Gesicht. Sie wollte aus dem Bett, aber dann blieb sie doch sitzen. Es war zu spät. Die Tür ging auf.
Der Baron saß in seinem Rollstuhl und betrachtete die Szene. Sein Gesicht war weiß und unbewegt, seine Augen blickten kalt.
Der Amerikaner sprang aus dem Bett und griff mit zitternden Händen nach seiner Hose. »Ich - ich kann alles erklären«, stammelte er.
Die Lippen des Barons bewegten sich kaum. »Raus!«
Der Amerikaner stürzte aus dem Zimmer. Einen Augenblick später hörten sie ihn die Haustür zuschlagen.
Der Baron saß in seinem Rollstuhl und sah sie immer noch an. Sie starrten zurück, die Liebste war auf dem Bett zusammengesunken, und Ileana saß vorgebeugt und hielt eine Decke vor ihre Brust. Schließlich fing ihr Vater an zu sprechen.
Mit durchbohrenden Blicken fixierte er seine Frau. »Es hat dir wohl nicht genügt, daß ich immer weggesehen habe, weil ich dich einmal geliebt habe und mich für dich verantwortlich fühlte. Aber haßt du mich denn so sehr, daß du deine eigene Tochter zur Hure machst?«
Ileana sagte: »Vater, ich war’s, ich habe.«
Ihr Vater blickte zu ihr. Noch nie hatte sie so traurige Augen gesehen. »Zieh dir was an, Ileana«, sagte er mit sanfter Stimme, »und geh in dein Zimmer.«
Sie ging auf den Korridor, und er rollte auf seinem Stuhl ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Sie war gerade an der Tür zu ihrem Zimmer, als sie die Schüsse hörte. Sie rannte zurück und machte die Tür auf. Dann fing sie an zu schreien. Ihre Mutter lag tot auf dem Bett, ihr Vater saß tot im Rollstuhl, der Revolver neben ihm auf dem Fußboden rauchte noch.
Ihr Vater hinterließ ihr kein Geld, aber ihre Mutter hatte ein Vermögen von mehr als sechzigtausend Dollar. Ileana nahm das Geld, fuhr nach Monte Carlo und hatte in einer Woche alles verspielt. Sie fühlte sich erleichtert, als das Geld ausgegeben war. Erleichtert und sauberer. Dann fuhr sie nach Nizza und besuchte ihre Freundin.
Dort begegnete sie Cesare zum erstenmal. Er war bei dem jährlichen großen Rennen zweiter geworden. Hier lernte sie auch eine neue Art zu leben. Es ging ihr wie ihrer Mutter; immer fand sich ein reicher Mann, der ihr helfen wollte. Und als sie erkannte, wie ähnlich sie ihrer Mutter geworden war, zählte nichts mehr.
Das einzige, was noch zählte, war das Heute. Und das, was sie aus jedem Tag herausholen konnte.
Vierzehntes Kapitel
Cesare löste sich von ihr, ging wieder ins Wohnzimmer und rief abermals nach Tonio. Da erschien der Diener in der
Weitere Kostenlose Bücher