Die Mordaugen von Brüssel
worden war, dem sie bedingungslos folgen würden. Das Telefon läutete. Es stand im Wohnraum. Durch die offenen Türen klang der Schall der Glocke.
Ruth stand auf. Obwohl sie den Anrufer nicht sehen konnte, wußte sie genau, wer da hatte anklingeln lassen. Es war ein Mensch, den sie schon seit langem kannte, der etwas Bestimmtes von ihr wollte. Sie hob ab und ließ sich gleichzeitig auf die Couch fallen, auf der sie vor kurzem noch gelegen hatte. »Adrienne?« fragte sie.
Ruth hörte den überraschten Ausruf ihrer Freundin. »Du wußtest, daß ich anrufen würde?«
»Ja.«
»Soll ich nach dem Grund fragen?«
»Nein, das wird wohl nicht nötig sein.«
Adrienne Braun atmete tief durch. Sie stammte aus Deutschland, wohnte aber schon lange in Brüssel. »Dann hast auch du den Besuch von ihm bekommen.«
»Natürlich.«
»Ich wollte mich nur davon überzeugen und fragen, ob wir gemeinsam dorthin gehen werden.«
»Ich bin dafür.«
Adrienne lachte leise. »Es ist ein wunderbares Gefühl, zu wissen, daß man mächtig ist. Spürst du auch, wie du innerlich eine andere geworden bist?«
»Ja, es gibt uns Kraft.«
Adrienne senkte ihre Stimme. »Und Macht, meine Liebe. Viel Macht. Ich kann mich an Zeiten erinnern, da haben wir von der Macht geträumt. Jetzt ist sie zum Greifen nahe. Wir brauchen nur an das Auge zu denken. Nur an das Auge, verstehst du?«
»Ich denke immer daran.«
»Dann ist es gut.« Adrienne räusperte sich. »Wie machen wir es? Soll ich dich abholen?«
Ruth wechselte den Hörer in die andere Hand und schaute gegen das Bücherregal. »Ich wäre dafür, weil ich momentan ohne Wagen bin. Außerdem mußt du fast bei mir vorbei.«
»Gut, dann warte auf mich.«
»Ich freue mich, bis gleich.« Mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen legte Ruth auf. Hätte sie jetzt in den Spiegel geschaut, wäre ihr der Glanz aufgelallen, der in ihren Augen lag. Es war ein ungewöhnliches Schimmern wie bei einem getönten Spiegel, auf den ein gewisses Licht fällt. Ein Zeichen der neuen Kraft, die in ihr steckte und von ihr Besitz ergriffen hatte. Was diese Kraft mit ihren Dienern anstellen wollte, darüber machte sie sich keine Gedanken. Wichtig war, zum Treffpunkt zu gelangen, wo sich alle einlinden würden, die dem Auge dienten. Es würde noch einige Zeit dauern, bis Adrienne eintraf. Sie wohnte am entgegengesetzten Ende der Stadt. Die halbe Stunde wollte Ruth nutzen, und sie dachte dabei an ihren Vater.
Noch vor einigen Stunden war das Verhältnis zu ihm völlig anders gewesen. Sie hatte ihren Vater gemocht und geliebt, nun abergab es eine andere Person, der sie ihre Gunst schenkte. Der Fairneß halber wollte sie dies ihrem Vater klarmachen. Deshalb holte sie Papier und einen Kugelschreiber, setzte sich nieder und begann damit, einen Brief zu schreiben.
Es sollte ein besonderer Brief werden, ein Abschiedsbrief, ein Dokument für die innerliche und äußerliche Trennung, da Ruth zu ihm nicht mehr zurückkehren wollte. Wo sie hinging, war ihr auch nicht klar, jedenfalls würde sie der Spur des Auges folgen.
Trotz der Tragweite ihrer Entscheidung schrieb sie leicht und flüssig. Der Kugelschreiber flitzte nur so über das Papier. Dabei riß Ruth die Probleme zwar an, ging aber nicht in die Tiefe. Im letzten Satz bat sie ihren Vater, nicht nach ihr zu suchen, weil sie sich endgültig entschlossen hatte, den anderen Weg zu gehen.
Sie faltete den Brief zusammen, steckte ihn nicht in einen Umschlag. Dafür klemmte sie ihn hinter den hohen Spiegel im Flur. Ihr Vater mußte ihn beim Eintritt einfach sehen.
Wieder im Wohnraum, vernahm sie das Hupen. Zweimal kurz hintereinander. Das war Adrienne. Ruth trat ans Fenster, schob die Gardine ein Stück zur Seite und starrte in die Tiefe, ohne allerdings etwas von ihrer Freundin sehen zu können, da die belaubten Baumkronen einen Blick auf die Bäume verwehrten. Adrienne Braun hatte den Wagen verlassen und lief über den schmalen Vorgartenweg. Ihr schwarzes Lokkenhaar wehte. Wie immer hatte sie es sehr eilig.
Sie trug eine gestreifte Blazerjacke und dazu einen dunkelgrauen engen Jeansrock. Der rote Blusenstofl im dreieckigen Ausschnitt erweckte Aufmerksamkeit.
Ruth ließ sie nicht klingeln. Sie öffnete schon vorher. Adrienne hastete die Treppe hoch und sah Ruth auf der Schwelle stehen, die ihr beide Hände entgegenstreckte.
Die Frauen umarmten sich.
»Komm einen Moment hinein«, bat Ruth.
»Haben wir denn soviel Zeit?«
»Sicher.«
Im Wohnraum nahmen sie
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