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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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massive, schwarz lackierte Tür. Sie schwang nach innen. Er sah die altvertraute Diele, die elegant geschwungene Treppe. Alles war makellos und aufgeräumt, und die Stille wurde nur vom Ticken der Wanduhr unterbrochen, die früher seinem Urgroßvater gehört hatte. Die polierten antiken Möbel glänzten, und auf der Truhe stand neben dem Telefon eine Schale mit Hyazinthen, die einen schweren sinnlichen Duft verströmten.
    Er zögerte. Oben wurde eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Schritte. Er blickte hinauf, als seine Mutter am Ende der Treppe erschien. »Danus!«
    Er sagte: »Wir hatten erst gestern Angelwetter. Wir sind einen Tag länger geblieben.«
    »O Danus.«
    Sie trug einen glatten Tweedrock und einen Lambswoolpullover, und ihr graues Haar war perfekt frisiert. Sie sah so gepflegt und fein aus wie immer. Aber zugleich sah sie anders aus. Sie kam die Treppe herunter auf ihn zu. sie lief die Treppe herunter, und das war ungewöhnlich. Er starrte sie an. Auf der untersten Stufe, wo ihre Augen auf derselben Höhe waren wie seine, blieb sie stehen und schloß die Hand über dem polierten Knauf auf dem Antrittpfosten. Sie sagte: »Es ist alles gut.« Sie weinte nicht, aber ihre blauen Augen glänzten wie von unvergossenen Tränen. Er hatte sie noch nie so aufgewühlt gesehen. »O Danus, es ist alles gut. Du hast nichts. Du hast nie etwas gehabt. Sie haben gestern abend angerufen, und ich hatte ein langes Gespräch mit dem Spezialisten. Die Diagnose des Arztes in Amerika war vollkommen falsch. All diese Jahre. und du hast nie Epilepsie gehabt. Du bist nie Epileptiker gewesen.« Er konnte kein Wort hervorbringen. Sein Gehirn hatte aufgehört zu arbeiten, hatte sich in Watte verwandelt, und er konnte keinen zusammenhängenden Gedanken fassen. »Aber.« Sogar das Sprechen kostete Mühe, und seine Stimme klang wie ein Krächzen. Er schluckte und setzte noch einmal an. »Aber die Ohnmachtsanfälle? «
    »Sie kamen von einem Virus, das du dir geholt hast, und von dem extrem hohen Fieber. So etwas kann offenbar passieren. Und dir ist es passiert. Aber es ist nicht Epilepsie. Ist es nie gewesen. Und wenn du nicht solch ein dickköpfiger Narr gewesen wärst und es nicht für dich behalten hättest, hättest du dir die jahrelange Angst und all die Sorgen ersparen können.«
    »Ich wollte nicht, daß ihr euch sorgt. Ich dachte an Ian. Ich wollte nicht, daß ihr alles noch einmal durchmacht.«
    »Ich würde eher durch Schwefel und Feuer gehen, als zulassen, daß du dich unglücklich machst. Und es war alles umsonst. Grundlos. Du bist gesund.«
    Gesund. Nie Epilepsie gehabt. Es war nie geschehen. Es war wie ein böser Traum, und genauso furchterregend, aber es war in Wahrheit nie geschehen. Er war gesund. Keine Tabletten mehr, keine Ungewißheit mehr. Die Erlösung gab ihm ein Gefühl der Schwerelosigkeit, als könnte er jeden Moment abheben und zur Decke schweben. Jetzt konnte er alles tun. Alles. Er konnte Antonia heiraten. O lieber Gott, ich kann Antonia heiraten, und wir können Kinderhaben, und ich kann dir einfach nicht genug danken. Ich danke dir für dieses Wunder. Ich werde nie aufhören, dir zu danken. Ich werde es nie vergessen. Ich verspreche dir, daß ich es nie vergessen werde. Ich...
    »O Danus, steh nicht so da und guck ins Leere. Verstehst du nicht?«
    Er sagte: »Ja.« Und dann sagte er: »Ich hab dich sehr lieb.«
    Obgleich es wahr war und immer wahr gewesen war, konnte er sich nicht entsinnen, jemals so etwas zu ihr gesagt zu haben. Seine Mutter brach prompt in Tränen aus, was ebenfalls vollkommen neu war, und er nahm sie in die Arme und hielt sie so fest an sich gedrückt, daß sie nach einer Weile aufhörte zu weinen und nur noch leise schniefte und ihr Taschentuch suchte. Schließlich traten sie auseinander, und sie schneuzte sich, wischte sich die Augen trocken und prüfte ihr Haar, schob eine Strähne zurecht.
    »Wie dumm von mir«, sagte sie. »Weinen war das letzte, was ich tun wollte. Aber es war eine so wunderbare Nachricht, und dein Vater und ich waren ganz krank vor Enttäuschung, daß wir dich nicht erreichen konnten, um es dir zu sagen und dir deine innere Ruhe zurückzugeben. Aber jetzt, wo ich es dir gesagt habe, muß ich dir noch etwas erzählen, was du wissen mußt. Gestern nachmittag kam ein Anruf für dich, und die Anruferin hat etwas ausgerichtet. Ich war nicht zu Hause, aber Mrs. Cooper hat es notiert, und ich habe es gelesen, als ich zurückgekommen bin. Ich fürchte, es ist

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