Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs
Vergleiche gehässig sind. Jed wirft mir ständig vor, dass ich Sophia und Lulu miteinander vergleiche. Und es stimmt, dass sich Lulu Bemerkungen anhören musste wie: «Wenn ich Sophia sage, dass sie es so und so machen soll, reagiert sie sofort. Deswegen lernt sie so schnell.» Westliche Menschen missverstehen das: Solche Aussagen sind keine Bevorzugung von Sophia, ganz im Gegenteil – ich bekunde meine hohe Meinung von Lulu. Ich bin überzeugt, dass sie alles kann, was auch ihre Schwester kann, und dass sie stark genug ist, um die Wahrheit zu ertragen. Außerdem weiß ich, dass sich Lulu sowieso mit Sophia vergleicht. Deshalb bin ich manchmal so streng mit ihr: Ich lasse nicht zu, dass sie in Selbstzweifeln schwelgt.
Aus genau diesem Grund sagte ich am Morgen vor Lulus erster Geigenstunde, noch bevor sie ihren Lehrer zum ersten Mal zu Gesicht bekam: «Denk dran, Lulu, du bist erst sechs. Sophia hat ihren ersten Konzertpreis gewonnen, als sie neun war. Ich bin sicher, du schaffst das noch früher.»
Lulu wurde sofort böse und ließ mich wissen, dass sie Wettkämpfe hasste und nicht Geige lernen wollte. Sie weigerte sich, ins Auto zu steigen, um sich zum Unterricht fahren zu lassen. Ich drohte ihr mit einer Tracht Prügel und Essensentzug – was damals noch funktionierte – und hattesie schließlich so weit, dass sie mit mir in die Neighborhood Music School kam, wo uns Mr. Carl Shugart rettete, der Suzuki-Geigenlehrer, dem Lulu zugeteilt worden war.
Mr. Shugart – um die fünfzig, von schütterem Blond und vom Typ her braver Vorzeigeschüler – gehörte zu denen, die mit Kindern besser zurechtkommen als mit Erwachsenen. Gegenüber Eltern verhielt er sich unnahbar und linkisch; er konnte uns kaum in die Augen schauen. Im Umgang mit Kindern aber war er ein Genie: locker, witzig, mitreißend, kumpelhaft. Für die Musikschule war er wie der Rattenfänger aus dem Märchen, dem alle Kinder nachlaufen – seine rund dreißig Schüler, zu denen auch Lulu zählte, wären ihm ans Ende der Welt gefolgt.
Mr. Shugarts Geheimnis war, dass er alles Technische am Geigenspiel in Geschichten und Bilder übersetzte, die den Kindern unmittelbar zugänglich waren. Statt Begriffe wie legato, staccato und accelerando zu verwenden, forderte er sie auf, sich vorzustellen, wie sie das Fell einer schnurrenden Katze streichelten, wie eine Armee Ameisen an ihnen vorbeimarschierte, wie Mäuse auf Einrädern einen Hügel hinabsausten. Ich weiß noch gut, wie ich staunte, als er mit Lulu Dvoˇráks Humoreske Nr. 7 übte. Auf das eingängige Eröffnungsthema, das die Leute überall auf der Welt vor sich hin summen, ohne zu wissen, woher es eigentlich stammt, folgt ein fast allzu sentimentales zweites Thema, das mit übertriebenem, tragikomischem Pathos gespielt werden soll – wie, um Himmels willen, erklärt man das einer Sechsjährigen?
Mr. Shugart sagte zu Lulu, das zweite Thema sei traurig, aber nicht so traurig, wie wenn jemand stirbt. Stattdessen solle sie sich vorstellen, dass ihre Mutter ihr ein großes Eis versprochen hat, eine Tüte mit zwei Kugeln, wenn sie eineWoche lang jeden Tag ihr Bett macht, und das hat sie voller Vertrauen getan. Aber dann ist die Woche um, und die Mutter denkt nicht dran, ihr das große Eis zu kaufen. Schlimmer noch – sie kauft der Schwester ein Eis, die doch gar nichts getan hat. Bei Lulu fand er damit eindeutig Anklang, denn sie spielte die Humoreske danach auf eine so ergreifende Art, als sei das Stück für sie geschrieben. Bis zum heutigen Tag höre ich zu den Tönen der Humoreske– auf Youtube finden Sie sie von Itzhak Perlman und Yo-Yo Ma – im Geist den Text, den Mr. Shugart hinzufügte: «Ich mö-ö-cht mein Eis hab’n, ach gib mir mein Eis jetzt, wo ist das Eis denn, das ich mir verdie-ie-nt?»
Erstaunlicherweise war sofort klar, dass Lulu, obwohl ich das Instrument für sie ausgesucht hatte, auf der Geige ein Naturtalent war. Schon in der Anfangszeit waren die Zuhörer immer wieder beeindruckt, wie natürlich sie sich bewegte, wenn sie spielte, und wie tief sie die Musik offenbar empfand. Bei Mr. Shugarts Konzerten war sie immer der Star, und andere Eltern fragten, ob wir eine Musikerfamilie seien und ob Lulu eine Karriere als Geigerin anstrebe. Natürlich ahnten sie nichts von den mörderischen Übungssitzungen zu Hause, bei denen Lulu und ich kämpften wie wilde Tiere – Tiger gegen Wildschwein –, und je mehr sie sich gegen mich wehrte, desto angriffslustiger wurde
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