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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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sie undeutlich die Gestalt eines Mannes erkennen, der
sich das Hemd über den Kopf zieht. Sie legt ihre Shorts ab und beginnt, ihre Bluse
aufzuknöpfen. Nur an der Körpergröße kann sie die Brüder unterscheiden, Ben ist
vielleicht fünf Zentimeter größer als Jeff.
    »Haben Sie Angst?«, fragt Jeff.
    »Nein.« Sydneys Mut ist nur gespielt. Gleich darauf fragt sie sich, ob
sie die Brüder vielleicht enttäuscht hat, da die Furcht ja der halbe Spaß ist.
    Das Wasser legt sich wie ein Schraubstock um Sydneys Fesseln. Sie schreit
unwillkürlich auf.
    »Wenn irgendetwas ist«, sagt Ben, »rufen Sie einfach. Einer von uns hört
Sie bestimmt.«
    Er berührt sie leicht an der Schulter. Sie dreht sich herum und versucht,
sein Gesicht zu erkennen. Aber das kann sie nicht. Jedenfalls nicht richtig.
    »Aber es wird sicher nichts sein«, beruhigt er sie und lässt den Arm
herabsinken.
    Sydney schaut ihm nach, als er dem Meer entgegenläuft und mit hohen Sprüngen
durch die Brandung setzt. »Erster«, ruft er, und augenblicklich sind beide Brüder
verschwunden, verschlungen von den Wellen. Kein Wunder, dass Mrs. Edwards dafür
nichts übrighat, denkt Sydney.
    Sydney spürt, wie Muscheln und kleine Steine unter ihren Füßen weggesogen
werden. Sie geht bis zu den Waden ins Wasser, dann bis zu den Oberschenkeln. Sie
hört einen Ruf von einem Bruder zum anderen. Sie sieht die weiß gekräuselten Ränder
einer herankommenden Welle und taucht hinein, lässt ihre Kraft sich über sie ergießen.
Als sie aufsteht, scheint das Meer sich zu ihren Knien zu entleeren. Sie schüttelt
den Kopf und wischt sich das Salz aus den Augen.
    »Haben Sie schon eine erwischt?«, ruft einer.
    »Nein«, antwortet Sydney.
    »Schnappen Sie sich eine.«
    Unter ihren Füßen ist nichts als Kälte und Brandung, unsteter Sand. Eine
Welle schlägt plötzlich von der Seite gegen sie, und sie erkennt, dass sie bereits
die Orientierung verloren hat. Sie sucht nach den lose aufgereihten Lichtern der
fernen Häuser. Die nächste Welle trifft sie von hinten und stößt sie ins Wasser.
Sie schürft sich die Schulter auf. Wieder hört sie einen Ruf von einem Bruder zum
anderen.
    Einfache Bewegungen scheinen ungeheuer schwierig, Entfernungen unüberwindbar,
es ist wie das Laufenlernen nach langer Krankheit. Als der Wasserspiegel knapp unterhalb
ihrer Taille ist, horcht sie auf eine nahende Welle. Eine lässt sie vorbei und die
nächste auch. Sie stemmt die Füße in den Boden und beobachtet eine Welle, die mit
weißen Zähnen herankommt. Sie wirft sich auf den Kamm, ihr Timing ist perfekt dank
jahrelanger Erinnerung, die in ihren Körper eingebrannt ist.
    Ein Brausen in ihren Ohren, das vollkommene Schwarz des Wassers. Sie
besitzt keine Macht, überhaupt keine, und könnte sich nicht aus der Welle befreien,
selbst wenn sie wollte. Die Welle scheint etwas Lebendiges zu sein, das kein anderes
Ziel hat, als sie mit ungeheurer Geschwindigkeit fortzutragen. Nie hat sie solche
Angst gehabt, solchen Überschwang empfunden.
    Sie rudert mit den Armen, wölbt den Rücken und holt Luft. Sie wird auf
den Strand geworfen, der Sand gibt unter ihr nach. Sie versucht aufzustehen.
    »Mein Gott«, sagt sie und wischt sich das Wasser aus den Augen.
    »Alles okay?«, fragt Ben, ebenfalls auf dem Trockenen.
    »Das war unglaublich.«
    Und schon ist Ben wieder verschwunden, begierig auf den nächsten Ritt.
Sydney sucht nach Jeff, kann ihn aber nirgends entdecken. Ihr schießt der Gedanke
durch den Kopf, dass man hier viel leichter ertrinken kann, als irgendjemand ihr
gesagt hat. Ein sicherer Tod ohne Hoffnung auf Rettung.
    Sydney wird die nächtliche Topografie des Meeres so vertraut wie einem
Jäger der nächtliche Wald. Sie reitet eine zweite Welle und eine dritte und danach
so viele, dass man sie nicht mehr zählen kann. Hin und wieder ruft sie und erhält
beruhigende Antwort.
    »Ich taumle nur noch«, ruft Sydney nach einer Weile. Ihre Beine halten
sie kaum mehr aufrecht. Sie möchte auf die Knie fallen und die Wellen über sich
hinwegspülen lassen. Auf trockenes Land hinauskriechen und dort schlafen.
    »Noch einmal«, ruft jemand.
    Sydney steht vor dem Ozean. Ein Ansatz von Konkurrenzgefühl, vielleicht
Stolz treibt sie vorwärts. Sie wird nicht als Erste das Handtuch werfen. Sie fröstelt
im plötzlichen Ostwind ( jetzt ist der Ostwind da) und
kreuzt die Arme vor dem Oberkörper. Sie wirft sich vorwärts. Sie schwingt ihre Beine
und ihren Körper von einer Seite zur anderen, um

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