Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
beim Angeln. Ist das eine gute Zeit zum Angeln?,
überlegt Sydney. Wofür würde es sich lohnen, in diesem strömenden Regen zu stehen?
Für einen Zackenbarsch? Einen Blaufisch?
Sie umfasst ihren Oberkörper fest mit beiden Armen, um sich warm zu halten.
Einen Anorak könnte sie jetzt brauchen.
Einige Minuten zuvor ist Mrs. Edwards an die Fliegengittertür gekommen,
hat herausgeschaut und ist dann wieder verschwunden. Julie wird oben sein und Birnen
malen. Weiß Ben Bescheid? Er muss es wissen, die beiden Brüder wollten ja eigentlich
mit Vicki zusammen herkommen. Sydney ist ziemlich sicher, dass es so geplant war.
Sydney hört die Fliegengittertür quietschen und dann zufallen. Jeff setzt
sich auf einen Stuhl nahe bei ihr und zieht den Reißverschluss seiner Windjacke
zu.
Er hat geduscht und ist rasiert.
»Und, wie geht es Ihnen?«, fragt er.
»Mir geht’s gut«, antwortet Sydney.
Jeff sieht weg und wieder her. »Sie haben nach Vicki gefragt.«
Sie wartet.
»Wir haben, wie man so schön sagt, eine Auszeit genommen.«
Sydney zieht die Windjacke fester um sie. »Für wie lange?«
»Lang.«
Sein Gesicht ist blass im grauen Licht.
»War das beiderseitig?«, fragt Sydney.
»Nicht unbedingt.«
Jeff beugt sich auf seinem Stuhl nach vorn, stützt die Ellbogen auf die
Knie und betrachtet Sydneys Gesicht, als wollte er es sich, ähnlich wie ein edles
Schmuckstück, auf das er soeben eine hohe Anzahlung geleistet hat, ganz genau ansehen.
»Sie müssen doch wissen, worum es hier geht«, sagt er schnell.
Sydney kann das Offenkundige nicht sagen. Dass ein Gedanke, ein Wunsch
Wirklichkeit wird, scheint ihr ein erstaunlicher physikalischer Vorgang. Wie Blitze
auf dem Wasser. Oder wie das Fliegen.
Jeff zieht mit dem Finger behutsam eine Linie von ihrem Knie zum Saum
ihrer Shorts und sagt mit dieser behutsamen Berührung alles, was gesagt werden muss,
für den Fall, dass sie nicht zugehört hat.
Sie hat nicht geglaubt, dass es so schnell gehen und Jeff so sicher sein
würde. Instinktiv bewegt sie ihr Bein weg.
»Vielleicht sind Sie noch in Trauer«, sagt Jeff.
»Sie vergeht immer mehr.«
»Dann – was?«, fragt er.
»Seit wann wissen Sie es?«
Er überlegt einen Moment. »Seit dem Tag auf der Veranda«, antwortet er,
korrigiert sich aber gleich. »Nein, seit dem Tag, als Sie Bodysurfing waren und
aus dem Wasser kamen. Sie hatten Spaß. Sie wirkten völlig unbefangen.«
Ist so etwas möglich?, fragt sich Sydney. Einen Menschen zu sehen und
es zu wissen? Alle Abwehrmauern zu durchdringen und es zu wissen?
»Es ist schwer zu glauben«, sagt sie und versucht zu lächeln, es leicht
klingen zu lassen.
»Ich erkenne es in der Rückschau. Ich kann nicht behaupten, dass ich
es in dem Moment wusste.«
»Sie wollten sich verloben«, sagt Sydney.
Jeff lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich wusste es, als ich ihr
das mit Julie nicht erzählte. Es erschien mir völlig normal, ihr nichts zu sagen;
als hätte ich in den Stunden, als Sie und ich im Dorf nach Julie suchten, gewissermaßen
von einem Leben in ein anderes gewechselt. Wenn ich vorher Zweifel hatte, so hatte
ich da überhaupt keine.«
»Und als Sie wieder in Boston waren, haben Sie es ihr gesagt?«, fragt
Sydney.
»So ungefähr.«
»Und wie hat sie reagiert? War sie wütend? Oder traurig?«
Jeff schaut über das Geländer. »Gekränkt, würde ich sagen. Verärgert,
dass ich ihr zuvorgekommen bin. Sie hat jedenfalls etwas in der Richtung gesagt,
als wir uns gestritten haben. Dass sie auch Zweifel gehabt habe. Angebote, von denen
ich nichts gewusst habe. Aber dass sie natürlich treu geblieben sei. Das hat sie
besonders betont.«
»Sie haben nicht gesagt –«
»– dass es um Sie geht? Nein. Das hätte sie mir nicht geglaubt.«
Das tut weh. Victoria hätte Jeff nicht geglaubt, weil Sydney so viel
weniger attraktiv ist als Vicki? Oder meint er nur, dass niemand etwas glauben würde,
was auf so wenigem beruht? Wie es ja Sydney selbst kaum glauben kann.
»Ich wollte Sie da nicht mit hineinziehen«, erklärt er. »Ich wollte Ihren
Namen nicht nennen, obwohl ich ihn mir seitdem ständig vorgesagt habe. Manchmal
sogar laut.« Er lacht leise bei der Erinnerung.
Sydney versucht, sich das vorzustellen. Jeff, in einer Wohnung, die sie
sich nur vorstellen kann, wie er ihren Namen sagt, während er sich ein paar Eier
brät. Jeff in einem Verkehrsstau am Central Square, wie er zur Windschutzscheibe
ihren Namen spricht.
Er ist ihr – schon – so weit
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