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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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vielleicht als Zeichen
dafür gedeutet, dass er nicht beim Verlassen des Zimmers seiner Geliebten ertappt
werden möchte – ein netter Anachronismus. Aber Sydney kennt die Absicht hinter diesem
Blick: Jeff möchte sichergehen, dass Ben nicht in der Nähe ist.
    Sydney legt sich wieder hin. Sie hatte sich Sonnenschein zum Erwachen
gewünscht. Nun ja, man kann immer hoffen, dass die Sonne später herauskommt, genau
im richtigen Moment. »Wenigstens zur Trauung«, sagt sie, laut mit der Macht feilschend,
die für die Beleuchtung verantwortlich ist.
    Sie steht auf und sieht sich nach ihrem Bademantel um. Ihre Mutter ist
wahrscheinlich schon unten in der Küche und sucht nach Besteck, obwohl sie gar nicht
weiß, wo die Cornflakes stehen.
    Der Vormittag scheint unerträglich lang. Ivers sitzt im Wohnzimmer
und hört sich im Radio eine Sportsendung an. Er hat den Apparat leise gestellt und
begleitet die Sendung ab und zu mit Gesten oder Antworten an gesichtslose Stimmen.
Sahir liest die New York Times , den Boston Globe und Barron’s , die zu
besorgen er eigens nach Portsmouth gefahren ist. Sydneys Mutter, die nichts zu tun
hat, wird eingeladen, in Sydneys Zimmer hinaufzukommen, wo Hélène Sydney gleich
die Haare machen wird.
    Sydney gibt sich genießerisch der Arbeit von Hélènes zarten Händen hin
und lässt sich von den Stimmen hinter sich einlullen. Als Hélène sie auffordert,
sich herumzudrehen, sucht sie draußen in ihrem Ozeandampfer-Panorama nach einer
Spur von Jeff – Schwimmweste in Neonrot auf neongelbem Kajak, ein leuchtendes Signal
an einem grauen Tag –, aber er ist noch nicht zurück. Es ist ja auch noch früh,
sagt sie sich. Er kann die Freiheit noch Stunden genießen, wenn es das ist, worum
es ihm geht, einen letzten Atemzug von Freiheit. Die Vorstellung deprimiert sie,
sie sieht die Heirat lieber als eine Befreiung, als die Möglichkeit, ein Land aufzusuchen,
in dem sie schon einmal war und wohin sie jetzt zurückkehren möchte.
    »Da habe ich zu ihm gesagt: ›Hast du meine E-Mail nicht gekriegt? Hast du sie nicht geöffnet?‹«
    Sydneys Freundin Emily, vor Kurzem erst eingetroffen, hat sich zu den
Frauen in Sydneys kleinem Zimmer gesellt. »Und darauf sagte er – das musst du dir
mal reinziehen: ›Ich betrachte den Austausch von E-Mails nicht als eine angemessene
Form der Korrespondenz.‹ – ›Ach nein?‹, hab ich gesagt, und er: ›Nein.‹ Darauf ich:
›Wie wär’s dann damit? Verpiss dich . Hat das für dich
die richtige Form?‹ – Du hättest das Gesicht von diesem eingebildeten Arsch sehen
sollen.«
    Frauen, die sich bei Frauen über Männer beschweren, manches davon tief
empfunden, vieles nicht, manche Anekdote berichtigt, sobald die Worte ausgesprochen
sind. Julie und Hélène können sich natürlich nicht über Männer beschweren, und Sydney
kann sich eigentlich auch nicht über den Mann beschweren, den sie gleich heiraten
wird. Bleiben also vor allem Emily und Sydneys Mutter, sie erzählt Geschichten,
die Sydney unter anderen Umständen vielleicht peinlich gewesen wären.
    »Oh«, sagt Sydney, nachdem sie Hélènes Aufforderung gefolgt ist und sich
vor den Spiegel gestellt hat. Ihr Haar ist hochgesteckt, der Knoten höchst raffiniert
geschlungen, sodass es aussieht, als wollte er sich im nächsten Moment lösen. Um
diesen Effekt zu erzielen, waren allerdings Unmengen Nadeln und Salven von Haarfestiger
nötig.
    »Leg die an«, sagt Hélène.
    Sydney packt ein Schächtelchen aus, in dem ein Paar Perlenohrringe liegt.
»Die sind für mich?«
    »Dein Hochzeitsgeschenk«, erklärt Hélène.
    »Aber ich dachte, die Frisur wäre das Hochzeitsgeschenk«, versetzt Sydney,
während sie schon die Perlentropfen herausnimmt.
    Hélène küsst sie auf die Wange. »Leg sie an«, sagt sie noch einmal.
    Hélène hat offenbar genau gewusst, wie die Ohrringe zusammen mit dem
lose aufgesteckten Haar wirken würden. Das lockere Haar umrahmt schmeichelnd Sydneys
Gesicht, Kinnpartie und Hals kommen klar konturiert heraus, an den Ohren schimmern
die Perlen. Mehr Schmuck braucht sie nicht.
    »Danke.« Sydney steht auf und umarmt Hélène.
    »Ich beneide dich«, sagt Hélène.
    Sydney wird das Kleid, das noch an der Schranktür hängt, erst in letzter
Minute anziehen. Ihre Sandaletten und die Stola warten auf einem Stuhl. Die anderen
Frauen sind inzwischen gegangen, um sich selbst zurechtzumachen, und vom Flur aus
kann Sydney das Rauschen der Duschen hören. Sie hat ein Bild vor Augen von

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