Die Nacht der Uebergaenge
Gesicht sehen, das so traurig und zerrissen,
gleichzeitig aber auch entschlossen und bestimmt in ihrer Entscheidung wirkte.
Bekky kam sich nur noch dümmer und naiver vor.
„Ich bin so froh, dass du nicht tot bist. Ich habe so viele
Fehler gemacht und ich weiß, dass sie nur schwer wieder gutzumachen sind. All
das ist unbegreiflich, aber ich weiß auch, dass ich nichts zu befürchten habe,
weil du bei mir bist und weil diese Leute wirklich nur versuchen, uns... dir...
zu helfen. Ich will, dass du wieder gesund wirst und ich möchte bei dir
bleiben. Ich will nicht nach Hause. Mein Zuhause ist jetzt bei dir, Romy. Ich
werde nicht mehr zweifeln. Jedenfalls nicht mehr so viel wie jetzt. Ich werde
versuchen, zu lernen. Von dir, von diesem Harper, von allem. Bitte schick mich
nicht fort. Bitte nicht! Ich weiß, dass du auch das befehlen könntest, aber ich
bete darum, dass es niemals soweit kommt. Ich hab dich lieb und vielleicht war
das der Grund, warum ich so ausgerastet bin. Ich wollte dich nicht teilen. Ich
wollte diejenige sein, die dir hilft, weil du schon so viel für mich getan
hast. So hilflos daneben zu stehen und darauf zu hoffen, dass vollkommen Fremde
dir helfen, noch dazu mit solchen Mitteln, war sehr schlimm. Ich habe Angst um
dich, aber ich werde stark sein. Für uns beide. Bitte verzeih mir, ja? Bitte.
Das ist alles, was ich noch zu fragen wage. Dass du mir verzeihst und mir
meinen Unglauben vergibst.“
Wenn sie so weiter heulte, dann würde ihr Make-up vollkommen
ruiniert sein. Doch das machte nichts. Dann hatte sie einen Grund mehr, sich
bei Lilith Harper zu entschuldigen und sich früh zu Bett zu begeben. Ohne
Abendessen. Die Mindeststrafe für ein ungezogenes, kleines Mädchen, wie Theodor
ihr vorhin zugeflüstert hatte. Eigentlich musste sie sich bei allen
entschuldigen, doch diese Kraft brachte sie heute Abend nicht mehr auf. Nicht
einmal dieser Wendy würde Rebeka in die Augen sehen können. Besonders vor ihr
hatte sie sich vollkommen lächerlich gemacht. Trotzdem hatte sie Romana
geholfen. Es würde sie nicht wundern, wenn Wendy ihre Entschuldigung einfach
ausschlug. Verdienterweise. Nur Romy sollte ihr bitte verzeihen.
Bekky rutschte von der Bank und kniete auf dem Stoff des teuren Kleides auf dem
kiesbelegten Gehweg nieder, um einen Moment hoffnungsvoll zu ihrer Schwester,
der neuen Patrona des neues Hauses Haliaetos (was auch immer das
bedeuten mochte), aufzublicken und dann ehrfürchtig den Kopf zu senken. Mit vor
Scham brennenden und tränenfeuchten Wangen.
Zu viel?
Romy konnte auf diese egoistische Sicht der Dinge nicht antworten. Für sie war
es auch zu viel. Sie würde sehr bald das Blut eines Mannes trinken müssen .
Eines Immaculate. Eines Wildfremden.
Sie sind Menschen wie wir... Sie existieren schon so lange wie wir…
Trotzdem fühlte sich Romy nicht besser. Ihre Zeit war abgelaufen. Sie war
überfällig. Ihre Reaktion auf Wendys Blut war nur ein kleiner Vorgeschmack
gewesen, was sie immer noch zutiefst verstörte.
Es tat ihr unendlich weh, ihrer Schwester so zusetzen zu müssen. Das war das
Letzte, was sie in ihrem Leben hätte tun wollen. Es war ein Ausblick auf die
Macht, die nun auf ihren Schultern lastete. Sie war nie jemand gewesen, der
einen leitenden Posten ins Auge gefasst hätte. Sie war ein Team-Player. Sie
würde sehr bald Entscheidungen treffen, die das Leben von anderen berühren
würden, sie würde sie beeinflussen. Sie durfte keine Fehler machen. Wie sollte
sie das schaffen, ohne die nötige Unterstützung? Auch von Bekky...
„Ich liebe dich auch, Rebeka, mehr als Worte ausdrücken
können!“, flüsterte Romy leise und legte ihren Arm um die schmalen Schultern
ihrer kleinen Schwester, um sie sanft an sich zu drücken.
Sie wollte ihr so gerne glauben, aber ein leiser Zweifel blieb, der an ihrem
Herzen nagte. Vielleicht war es auch nur die Erkenntnis, dass ihr neu erlangtes
Amt sie zu einem sehr einsamen Menschen machen würde.
Natürlich trug sie nun einen Titel, aber die Reaktionen in der Gesellschaft
waren zwar respektvoll aber auch misstrauisch gewesen. Jeder ihrer Schritte
würde nun mit Argusaugen verfolgt werden. Sie stand nun im Abseits. Mehr denn
je. Der einzige Unterschied zu früher war, dass sie nun eine Designerrobe und
Schmuck trug statt Lederklamotten und eines Nasenpiercings.
Romy nahm die Hände ihrer Schwester und zog sie vom Boden in
die Höhe, ohne sie erneut in die Arme zu ziehen.
„Ich bin dir nicht böse, Bekky! Ich wollte nur, dass
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