Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
Fensterlädenstehen offen, sie sind aufgestanden. Die Zeugenaussage von Léo kann warten, ich werde mal auf ein Wort bei denen vorbeigehen. Wenn Lina nicht zu Hause ist, ist es leichter, die Brüder zum Reden zu bringen. Vor allem den aus Ton.«
    »Aus Ton?«
    »Du hast ganz richtig gehört. Aus brüchigem Ton. Glaub mir, steig in deinen Zug und vergiss sie. Wenn eines stimmt, was den Pfad von Bonneval angeht, dann, dass er die Leute verrückt macht.«

9
    Auf der Anhöhe über Ordebec suchte Adamsberg sich ein sonnenbeschienenes Mäuerchen und setzte sich im Schneidersitz darauf. Er zog Schuhe und Socken aus und betrachtete das blassgrüne Gefälle der Hügel, die Kühe, die wie Statuen in den Wiesen standen, wie um als Orientierungspunkte zu dienen. Schon möglich, dass Émeri recht hatte, schon möglich, dass Herbier, in Panik geraten durch die Ankunft der schwarzen Reiter, sich eine Kugel in die Stirn geschossen hatte. Doch das Gewehr aus einem Abstand von mehreren Zentimetern auf sich zu richten war ziemlich unnatürlich. Sicherer und wahrscheinlicher war es, sich den Lauf in den Mund zu stecken. Es sei denn, um Émeris Analyse zu folgen, Herbier hätte diese Sühnehandlung bewusst gewählt, um sich den Tod zu geben, wie er es bei den Tieren tat, indem er direkt auf ihre Stirn zielte. Sollte dieser Kerl zu einer Wiederkehr von Gewissen, zu Reue fähig gewesen sein? Fähig vor allem, die Vergeltung durch das Wütende Heer in einem solchen Maße zu fürchten? Ja. Diese verstümmelte, stinkende schwarze Reiterhorde fraß an dem Land hier seit zehn Jahrhunderten. Sie hatte Abgründe gegraben, in die jeder, selbst der Vernünftigste plötzlich hinabstürzen und in denen er gefangen bleiben konnte.
    Eine Nachricht von Zerk teilte ihm mit, dass Hellebaud nun schon allein getrunken hatte. Adamsberg brauchte ein paar Sekunden, um sich zu erinnern, dass das der Name der Taube war. Es folgten mehrere Mitteilungen aus der Brigade, die Analyse hatte bestätigt, dass sich Spuren von Brotkrume in der Kehle des Opfers, Tuilot Lucette, befanden,aber keine in ihrem Magen. Eindeutiger Fall von Mord. Dem Mädchen mit seiner Rennmaus im Krankenhaus von Versailles ging es besser, der vermeintliche Großonkel war wiederhergestellt und befand sich in Polizeigewahrsam. Retancourt sandte eine alarmierendere Nachricht, geschrieben in Großbuchstaben. Momo-mèche-courte im Verhör, Belastungsmaterial ausreichend für Anklage, verkohlter alter Mann identifiziert, riesiger Aufruhr, dringende Bitte um Rückruf.
    Adamsberg verspürte ein Kribbeln im Nacken, ein Gefühl heftigen Unmuts, vielleicht eine von diesen kleinen Kugeln Elektrizität, von denen Émeri gesprochen hatte. Er rieb sich den Hals, während er Danglards Nummer wählte. Es war 11 Uhr, der Commandant musste am Arbeitsplatz sein. Zu früh, um schon einsatzfähig zu sein, aber anwesend.
    »Warum sind Sie noch dort«, fragte Danglard in seinem morgendlichen, sehr mürrischen Ton.
    »Man hat gestern die Leiche des Jägers gefunden.«
    »Habe ich gelesen. Und das ist nicht unsere Angelegenheit. Reißen Sie sich von diesem verdammten Grimweld los, bevor er Sie einholt. Es gibt Neuigkeiten hier. Émeri ist in der Lage, allein damit klarzukommen.«
    »Und scharf darauf. Er ist ein anständiger Typ, kooperativ, aber empfiehlt mir den nächsten Zug zurück. Er optiert für Selbstmord.«
    »Gute Nachricht für ihn. Das käme ihm entgegen.«
    »Gewiss. Aber die alte Léo, bei der ich übernachtet habe, war sich sicher, dass es sich um einen Mord handelt. Sie ist für die Stadt Ordebec das, was ein Schwamm fürs Wasser ist. Sie nimmt alles auf, und das seit achtundachtzig Jahren.«
    »Und wenn Sie draufdrücken, sagt sie’s dann?«
    »Wo draufdrücken?«
    »Auf diese Léo. Wie auf einen Schwamm.«
    »Nein, sie bleibt auf der Hut. Sie ist kein Klatschweib, Danglard. Sie funktioniert nach dem Prinzip des Schmetterlings,der sich in New York bewegt und eine Explosion in Bangkok auslöst.«
    »Sagt sie das?«
    »Nein, Émeri.«
    »Nun, dann irrt er sich. In
Brasilien
tut der Schmetterling einen Flügelschlag, und in
Texas
löst das einen Tornado aus.«
    »Ändert das irgendwas, Danglard?«
    »Ja. Indem man sich von den Wörtern entfernt, wird aus den reinsten Theorien bloßes Getratsche. Am Ende weiß man überhaupt nichts mehr. Zwischen annähernd und ungenau löst sich die Wahrheit auf und macht dem Obskurantismus Platz.«
    Danglards Laune besserte sich ein wenig, wie jedes Mal, wenn er

Weitere Kostenlose Bücher