Die Nacht des Zorns - Roman
die Spitze der Brigade berufen werden, und die Arbeit geht weiter.«
»Ich erinnere mich nicht, dass ich im Vernehmungsraum eingeschlafen bin«, sagte Mercadet mit vor Schuldbewusstsein erstickter Stimme. »Es ist alles mein Fehler. Aber ich erinnere mich nicht. Wenn ich jetzt schon einschlafe, ohne es zu bemerken, bin ich für den Dienst nicht mehr tauglich.«
»Der Fehler gibt es viele, Mercadet. Sie sind eingeschlafen, Estalère hat den Raum verlassen, wir haben Mo nicht durchsucht, und ich bin allein mit ihm in meinem Büro geblieben.«
»Selbst wenn wir ihn vor Ablauf von acht Tagen finden, wird man Sie feuern, um ein Exempel zu statuieren«, meinte Noël.
»Schon möglich, Noël. Aber es bleibt uns immer noch eine Hintertür. Ansonsten bleibt mir mein Gebirge. Also nicht weiter dramatisch. Was im Augenblick viel dringlicher ist: Machen Sie sich auf eine überraschende Inspektion unserer Räumlichkeiten im Laufe des Tages gefasst. Bringen Sie also alles, was nach angestrengter Arbeit aussieht, in Stellung, und zwar maximal. Sie, Mercadet, legen sich jetzt schlafen, Sie müssen hellwach sein, wenn die Herren hier aufkreuzen. Lassen Sie danach die Kissen verschwinden. Voisenet, nehmen Sie Ihre Ichthyologie-Zeitschriften vom Tisch, Froissy, keine Spur von Lebensmitteln mehr in den Schränken, und räumen Sie auch Ihre Aquarelle weg. Danglard, holen Sie Ihre Weinreserven aus den Verstecken, Retancourt, bringen Sie den Kater und seine Futternäpfe in eins von den Autos. Was sonst noch? Wir dürfen kein Detail außer Acht lassen.«
»Die Schnur?«, fragte Morel.
»Welche Schnur?«
»Mit der die Beine der Taube zusammengebunden waren. Das Labor hat sie uns zurückgeschickt, sie liegt aufdem Tisch mit den Proben und den Analyseergebnissen. Wenn die Fragen stellen, wäre dies nicht der Augenblick, ihnen von dem Vogel zu erzählen.«
»Die Schnur nehme ich mit«, sagte Adamsberg, und er las auf Froissys Gesicht die Angst, die sie bei dem Gedanken erfasste, sich von ihren Nahrungsmittelreserven trennen zu müssen. »In allem Unheil gibt’s aber auch eine gute Nachricht. Der Divisionnaire Brézillon steht diesmal auf unserer Seite. Von daher haben wir keine Störmanöver zu befürchten.«
»Wie kommt’s?«
»Die Clermont-Brasseur-Gruppe hat das Handelsunternehmen seines Vaters kaputtgemacht, ein Importgeschäft für bolivianisches Erz. Eine hundsgemeine Heuschreckenaktion, die er ihnen nicht verzeiht. Er wünscht sich nur eins, dass wir ›diesen Banditen die Daumenschrauben anlegen‹, so seine Worte.«
»Die dürften in dem Fall nicht nötig sein«, sagte Retancourt. »Die Familie Clermont hat damit nichts zu tun.«
»Ich sagte es auch nur, um Ihnen eine Vorstellung von der Gemütsverfassung des Divisionnaire zu geben.«
Und wieder diese leise Ironie in Retancourts Augen, oder täuschte er sich?
»Also, gehen Sie«, sagte Adamsberg und erhob sich, wobei er mit einem Griff in den Nacken zugleich seine Stromkugel auf den Boden schleuderte. Säuberung der Räumlichkeiten. »Mercadet, Sie bleiben noch einen Moment, kommen Sie mit mir.«
Er saß Adamsberg gegenüber und knetete seine kleinen Hände. Mercadet war ein anständiger Kerl, gewissenhaft, aber auch verletzlich, und Adamsberg war drauf und dran, ihn in eine Depression zu stürzen, in den Hass auf sich selbst.
»Ich möchte lieber gleich entlassen werden«, sagte Mercadet und rieb sich würdevoll seine Augenringe. »Der Kerlhätte Sie abknallen können. Wenn ich jetzt schon einschlafe, ohne dass es mir bewusst ist, will ich gehen. Ich war schon vorher nicht verlässlich, aber jetzt bin ich ein Risiko geworden, ein unkontrollierbares Risiko.«
»Lieutenant«, sagte Adamsberg und beugte sich über den Tisch, »ich habe gesagt, dass Sie eingeschlafen sind. Aber Sie sind nicht eingeschlafen. Mo hat Ihnen auch nicht Ihre Waffe abgenommen.«
»Nett von Ihnen, Kommissar, dass Sie mir wieder einmal helfen wollen. Aber als ich da oben aufgewacht bin, hatte ich keine Waffe und kein Handy mehr bei mir. Beides hatte Mo.«
»Er hatte sie, weil ich sie ihm gegeben habe. Ich habe sie ihm gegeben, nachdem ich sie Ihnen abgenommen hatte. Oben im Raum mit dem Getränkeautomaten. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Nein«, sagte Mercadet und sah ihn entgeistert an.
»Ich selbst, Mercadet. Ich musste Mo zur Flucht verhelfen, bevor er in Haft kam. Mo hat niemals einen Menschen getötet. Die Mittel konnte ich mir nicht aussuchen, und ich habe Sie mit
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