Die Nacht Hat Viele Augen -1-
sollte, aber er war hilflos und unfähig zu handeln. Er konnte nichts anderes spüren als ihre Fingerspitzen, die sich durch den Stoff seines Jacketts bis auf seine Haut brannten.
Er nahm sich selbst ein Bier und für sie ein Glas Champagner, dann dirigierte er sie in eine abgeschiedene Ecke am Fenster. Sie starrten einander an, als würden sie sich voreinander fürchten.
»Du bist sauer«, murmelte sie und starrte in den Champagner.
»Ja.« Er trank einen Schluck von seinem Bier. »Du hast mich von dem Tag an belogen, als wir uns kennengelernt haben. Ich kann es nicht ertragen, angelogen zu werden.«
»Ich habe dich nicht belogen.«
Der kühle, aufrechte Ton in ihrer Stimme ließ ihn ein hässliches Lachen ausstoßen. »Ach ja? Peter Marat ?«
»Das ist das Einzige, was ich verschwiegen habe, und das wirst du mir kaum vorwerfen können. Versuch bitte, es zu verstehen, Seth. Ich habe dich erst seit vier Tagen gekannt, und ich tue hier etwas, wovor ich eine Todesangst habe …«
»Eine Todesangst, ja?« Er griff nach dem Schmuckstück, und sie zuckte zurück, als seine Fingerspitzen die samtige Wärme ihres Dekolletés berührten. Er hielt den Stein ans Licht und bewunderte die glitzernden Farben. »Sehr hübsch«, bemerkte er. »Ich wette, dir das Ding um den Hals zu legen, hat dich völlig verrückt gemacht vor Angst. Wie hast du es dir verdient, Süße?«
Sie riss ihm den Opal aus der Hand. »Sei nicht so grausam. Er hat meiner Großmutter gehört.« Sie trat einen Schritt zurück und zog sich die schimmernde blaue Stola enger um die Schultern. »Du bist gemein, und ich hasse das«, sagte sie mit leiser, aber klarer Stimme. »Bitte hör auf damit.«
»Das kann ich nicht.« Es war die reine Wahrheit. »Ich bin echt, Babe. Was du siehst, ist genau das, was du bekommst. Umgekehrt kannst du das nicht unbedingt behaupten, Raine Cameron Lazar .«
Sie errötete noch heftiger. Mit blitzenden Augen sah sie ihn an und trank den Rest ihres Champagners in einem Zug aus. »Wir werden später darüber sprechen«, erklärte sie. »Gleich wird gegessen. Schaffst du es, vor Victors Gästen keine Szene zu machen?«
»Was ist es dir wert?«, spottete er.
Ihre Lippen wurden weiß. »Bitte, Seth.«
Ihr Gesichtsausdruck hatte plötzlich etwas Verkniffenes und Gehetztes. Trotz seiner Wut berührte es ihn. Er kam sich plötzlich wie ein Bastard vor, der nach einem Welpen trat. »Später«, murmelte er.
»Die anderen gehen in den Speiseraum. Wollen wir?«
Er verneigte sich und bot ihr seinen Arm. »Zu Ihren Diensten.«
Am Tisch setzte er sich neben sie, ein falsches, angespanntes Lächeln im Gesicht. Jetzt verstand er, wie wichtig es war, gute Manieren zu haben. Sie waren reine Technik, auf die man zurückgreifen konnte, wenn die Situation einen überforderte, man sich das aber nicht leisten konnte. Wie in einem Kampf. Man trainierte Tritte, Schläge, wie man parierte und stürzte, bis es einem zur zweiten Natur geworden war. Und wenn dann jemand versuchte, einen zusammenzuschlagen, war man in der Lage, sich leicht und völlig automatisch zu verteidigen.
Manieren.
Tritte und Schläge.
Es war alles das Gleiche.
Raine hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, das Essen zu überstehen. Sie lächelte und unterhielt sich auf Italienisch mit Sergio, dem Museumskurator zu ihrer Linken, über mittelalterliche Kunst, und sie betrieb höfliche Konversation mit dem distinguierten älteren Herrn, der ihr gegenüber am Tisch saß und von seinem zeitraubenden Interesse am Sammeln von historischen Waffen erzählte. Sie lachte und lächelte und plapperte allgemeinen Unsinn, während ein brodelnder Vulkan direkt neben ihr saß. Das Essen war exquisit zubereitet, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, überhaupt etwas gegessen oder getrunken zu haben, obwohl sie es getan haben musste.
Nach dem Obst, der Nachspeise und dem Kaffee schlenderten die Gäste hinüber in den Hauptsaal, wo die Präsentation von Victors neuester Errungenschaft stattfinden sollte. Allgemeine Vorfreude war zu spüren. Victor kam zu ihnen herüber und strich Raine eine vorwitzige Strähne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, hinters Ohr. Sie spürte deutlich, wie sofort Wut in Seth aufloderte über diese besitzergreifende Geste von Victor, obwohl er es sich äußerlich nicht anmerken ließ.
Victors Lächeln zeigte, dass er es ebenfalls spürte und sich darüber amüsierte.
»Vielleicht wollt ihr beiden ein wenig allein sein. Ich habe vor, dir morgen meine
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