Die Nacht Hat Viele Augen -1-
Geheimen nicht gerade seine Vernichtung geplant hätte.
»Es ist selten, dass eine Amerikanerin so viele Sprachen fließend spricht«, bemerkte er.
Raine blinzelte. »Ich … äh … habe viel Zeit in Europa verbracht, als ich jung war«, stammelte sie.
»Ach tatsächlich? Wo denn?«
Sie hatte sich auf diese Frage vorbereitet und beschlossen, dass es keinen Grund gab, nicht einfach die Wahrheit zu sagen, wann immer das möglich war. »Zuerst in Frankreich in der Nähe von Lyon. Dann eine Weile in Nizza und Holland, mit vielen Stopps dazwischen. Wir waren ein paar Jahre in Florenz und dann in der Schweiz. Danach kam London.«
»Ah. Waren Ihre Eltern im diplomatischen Dienst?«
Warum zum Teufel fing er nicht wieder an zu diktieren? Warum musste er sie jetzt, wo sie allein mit ihm war, mit diesen stechenden Augen mustern? »Äh … nein«, stotterte sie. »Meine Mutter ist einfach gern gereist.«
»Und Ihr Vater? Ist der auch gern gereist?«
Sie holte tief Luft. Bleib bei der Wahrheit, verzettel dich nicht , ermahnte sie sich. »Mein Vater ist gestorben, als ich noch sehr jung war.«
»Oh. Das tut mir leid.«
Sie dankte ihm mit einem kurzen Nicken und betete zu Gott, dass er weiterdiktieren und sie in Ruhe lassen würde.
Doch das tat er nicht. Er betrachtete ihr Gesicht und runzelte dabei die Stirn. »Ihre Brille. Sind Sie auch in der Lage, ohne sie zu arbeiten?«
Der abrupte Themenwechsel verwirrte sie. »Ich … äh … glaube schon. Ich bin kurzsichtig, deswegen brauche ich sie eigentlich nur für die Ferne …«
»Ihre Probleme mit den Augen interessieren mich nicht. Bitte seien Sie so freundlich, und tragen Sie die Brille nicht wieder in meiner Gegenwart.«
Raine starrte ihn an. »Meine … Ihnen gefällt meine Brille nicht?«
»So ist es. Sie ist abscheulich. Kontaktlinsen wären akzeptabel.« Er lächelte, freundlich und großmütig.
Sie zwang sich, den Mund wieder zuzuklappen. Vielleicht war das irgendein perverser psychologischer Test. Keine normale Vorstandsassistentin würde jemals einer solchen unpassenden und ihr zu nahetretenden Forderung Folge leisten – es sei denn, sie hatte überhaupt kein Rückgrat. Aber in Victors Welt existierte das Wort normal nicht. Er war wie ein schwarzes Loch, das die bekannte Welt bis zur Unkenntlichkeit verzerrte.
Er wartete, eine Augenbraue gehoben, und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf.
Sie hatte aufgehört, Kontaktlinsen zu tragen, und sich diese abscheuliche Brille aus genau dem Grund besorgt, damit Victor keine Ähnlichkeiten mit ihrer Mutter feststellte. Sie nahm die Brille ab und steckte sie langsam in ihre Handtasche. Die Welt vor ihren Augen verschwamm. Die Limousine hielt, und plötzlich schlug ihr das Herz bis zum Hals.
Sie klappte den Computer zu und stieg aus dem Wagen. Sie wusste, dass sie sich auf dem Parkplatz des Lagerhauses befanden, aber alles, was sie erkennen konnte, waren riesige graue Quader vor einem blendend hellen Himmel. Die Luft roch nach Benzin und nassem Beton.
Sie spürte ihn, bevor sie ihn sah, so wie im Fahrstuhl und in der Küche. Und dass sie nur verschwommen sehen konnte, verstärkte lediglich das Gefühl seiner Gegenwart. Die Bilder ihrer verstörenden erotischen Fantasien der letzten Nacht schossen ihr durch den Kopf. Alle ihre Sinne waren offen gewesen wie eine durstige Blume.
Die große, dunkle Gestalt kam auf sie zu und verwandelte sich in Seth Mackey. Er trug schwarze Jeans, einen dunkelgrauen Pullover und eine schwarze Lederjacke. Er war jetzt nahe genug, dass sie das locker gewebte Waffelmuster seines Pullovers erkennen konnte und den Bartschatten auf seinem kantigen Kinn. Er musterte sie abschätzend, aber sie spürte sein Interesse wie eine unterschwellige Strömung.
Die beiden Männer begrüßten einander, und dann streckte er ihr die Hand hin. In seinem Gesicht war keine Spur der Wärme von gestern zu erkennen, und seine dunklen Augen waren dunkel und grimmig. Wahrscheinlich ist er jetzt ganz aufs Geschäft konzentriert, sagte sie sich. Sie ignorierte das aufregende Gefühl der Erwartung, das wie Schmetterlinge in ihrem Bauch herumflatterte, und setzte ein künstliches Lächeln auf.
Die Berührung seiner großen, warmen Hand war ein Schock für sie – so vertraut. Sie dauerte nicht länger als zwei Sekunden, und als er ihre Hand losließ, war ihr das künstliche Lächeln aus dem Gesicht gerutscht, und ihr Herz schien aus ihrer Brust herausspringen zu wollen. Die beiden Männer gingen mit schnellen
Weitere Kostenlose Bücher