Die Nacht Hat Viele Augen -1-
gestürmt. »Raine, gehen Sie bitte in die Bibliothek«, erklärte er wichtigtuerisch. »Mr Lazar hat Korrespondenz, die sofort per Kurier losgeschickt werden muss, wenn wir wieder auf dem Festland sind. Machen Sie schon, beeilen Sie sich.«
Sie griff nach ihrem Notizbuch und lief los. Erst als sie schon auf halbem Weg dort war, erinnerte sie sich, dass sie gar nicht gefragt hatte, wo sich die Bibliothek befand. Ein dummer Fehler, aber es war zu spät, sich noch den Kopf darüber zu zerbrechen.
Es war seltsam, dass sie vergessen hatte, wie einsam und kalt Stone Island war. Das einzig warme und schillernde Wesen war Victor gewesen. Im Vergleich zu der zurückhaltenden Melancholie ihres Vaters und der Selbstverliebtheit ihrer Mutter war Victor immer voller Dynamik und Gefahr gewesen. Mit zitternder Hand stand sie vor der Tür zur Bibliothek.
Zu viel Dynamik und zu viel Gefahr. Sie öffnete die Tür.
Der vertraute Raum schien ihr entgegenzukommen und sie in sich aufzunehmen. Bücherregale reichten vom Boden bis zur Decke, und dazwischen befanden sich schmale Fenster. Sie waren gerahmt mit Glasmalereien – verschlungene Weinreben und Sonnenaufgänge, voller Wassertropfen und glühend vor dem tiefen Blau des frühen Abends.
Sie schlich sich in den leeren Raum, angezogen von einem Bord mit Fotografien, das fast wie ein Altar wirkte. Dort stand ein Bild von Victor mit ihrem Vater als knochigem, zwölfjährigem Jungen. Der achtzehn Jahre alte Victor trug ein dünnes T-Shirt. Sein muskulöser Arm lag um den Hals seines Bruders, und eine Zigarette hing ihm aus dem Mundwinkel.
Dann gab es eine verblichene Bleistiftzeichnung ihrer Großmutter, einer hübschen dunkelhaarigen Frau mit hellen Augen, und noch ein weiteres Foto von ihr, als sie eine gut aussehende ältere Frau war. Letzteres war auch die Vorlage für das Porträt, welches über der Anrichte hing. Raine betrachtete ein Schulfoto von sich selbst in der sechsten Klasse der Mittelschule von Severin Bay. Sie erinnerte sich an die kratzige Spitze des Kragens von diesem verhassten grünen Samtkleid.
Das letzte Foto zeigte das Segelboot ihres Vaters. Sie selbst stand mit ihrer Mutter sowie Victor und einem unbekannten Mann davor. Der fremde Mann war dunkelhaarig und gut aussehend mit einem dicken Schnurrbart. Er lachte. Irgendetwas löste ein Prickeln in ihrem Nacken aus, aber sie wusste nicht, was es war. Dann verschwand das Gefühl wie ein Fisch, der in die Tiefen des Wassers abtauchte, begleitet von einem scharfen Stich der Angst. Sie zwang sich, das Foto in die Hand zu nehmen und es genauer anzusehen.
Es war einer jener seltenen Sonnentage gewesen, und ihre Mutter sah ausgesprochen glamourös aus in einem hübschen gelben Sommerkleid, das Haar mit einem Seidentuch zurückgebunden. Victor hatte den Arm um Alix’ Schulter gelegt, und mit der anderen Hand fuhr er Raine durchs Haar. Sie erinnerte sich an den Badeanzug mit den grünen Fröschen darauf und an die dazu passende grüne Froschsonnenbrille. Victor hatte aus irgendeinem Grund an ihrem Zopf gezogen, so hart, dass ihr die Tränen gekommen waren. Dann hallte seine kühle, schleppende Stimme mit dem leichten Akzent in ihrem Kopf wider. Um Gottes willen, Katya, reiß dich zusammen. Sei keine Heulsuse. Die Welt ist nicht nett zu Heulsusen.
Geschützt von der Sonnenbrille hatte sie die Tränen weggeblinzelt. Zumindest konnte sie so tun, als würde sie nicht weinen.
Die Froschsonnenbrille lag neben der Fotografie. Sie griff danach und war überzeugt, dass sie einfach hindurchfassen würde wie durch ein Hologramm. Aber sie war echt. Kalt, glatt, hartes Plastik. Sie starrte sie an und wunderte sich, wie klein sie war.
Ein Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, aufgewühlte Übelkeit. Furcht, die sich immer höher schraubte und ausweitete. Sie wollte laufen, schreien. Wasser. Ein verwirrender grüner Schleier. Blinde Panik.
»Katya«, ertönte eine leise Stimme hinter ihr.
Sie fuhr herum und schnappte nach Luft. Die Sonnenbrille fiel ihr aus der Hand und landete auf dem Teppich. Niemand außer ihrer Mutter kannte ihren früheren Namen. Seit sechzehn Jahren war sie nicht mehr damit angesprochen worden.
Victor Lazar stand in der Tür, die Hände tief in den Taschen seiner edlen Hose aus Wollstoff vergraben. »Tut mir leid, meine Liebe, ich wollte Sie nicht erschrecken. Offensichtlich passiert mir das immer wieder.«
»Ja, das tut es.« Sie holte tief Luft und versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken.
Victor
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