Die Nacht Hat Viele Augen -1-
von der Jeans und schüttelte mit einem krächzenden Lachen den Kopf. »Was für ein Witz«, murmelte er. »Warum sollte ich Mitleid mit dir haben? Du bist es doch, der gerade flachgelegt worden ist. Wir werden sehen, wie tief sie in der Sache drinsteckt, wenn wir hören, was Novak zu ihr gesagt hat. Die Mikrofone am Jachthafen haben es doch aufgezeichnet, oder?«
Seth biss die Zähne zusammen. »Ja.«
»Gut. Dann hol uns die Daten. Und … äh … wie lange ist es her, seit du mal geduscht und dich rasiert hast? Du siehst ziemlich verwahrlost aus. Wenn du dich so am Hafen herumtreibst, wird man dich noch wegen Landstreicherei verhaften.«
»Hau ab, McCloud«, erwiderte Seth müde.
Connor schlug ihm mit einem Grinsen auf die Schulter. »Guter Junge.«
Raine war überwältigt, als der dunkle Felsen von Stone Island vor ihr immer größer wurde. Der Ort strahlte stille Unermesslichkeit aus. In den Pinien seufzte der Wind, und dicke Wolken hingen schwer am Himmel. Der Morgennebel begann sich zu heben und enthüllte die vertraute Küstenlinie. Der Geruch von Moos, feuchtem Holz, Algen, Pinien und Tannen stieg ihr in die Nase.
Clayborne, Victors persönlicher Assistent, erwartete sie am Anlegesteg. Er war ein Mann mittleren Alters mit einem bleistiftdünnen grauen Schnurrbart über seiner langen, ständig zuckenden Oberlippe.
»Endlich«, jammerte er und winkte aufgeregt, dass sie ihm folgen möge. »Kommen Sie. Wir brauchen Ihre Französischkenntnisse während der Geschäftszeiten, und es ist in Marokko schon nach 19 Uhr. Was um alles in der Welt hat Sie aufgehalten?«
»Tut mir leid«, murmelte Raine gedankenverloren. Das Haus ragte vor ihr auf, während sie den Pfad vom Anleger hinaufgingen. Ein weitläufiges, aber immer noch irgendwie graziöses Anwesen. Von außen wirkte es trügerisch einfach, verkleidet mit Holzschindeln, die zu einem schillernden Silbergrau verblichen waren.
Der Geruch der luxuriösen Einrichtung weckte sofort alle ihre Erinnerungen. In jedem Raum standen Schüsseln, die Lavendel- und Kiefernduft verbreiteten, und die Wände waren mit edlem Zedernholz verkleidet. Alix hatte sich immer über den durchdringenden Geruch des Holzes beschwert und behauptet, dass sie davon Kopfschmerzen bekäme, aber Raine hatte es geliebt. Der Duft hatte noch Monate, nachdem sie geflohen waren, ihren Sachen angehaftet. Sie erinnerte sich daran, wie allein sie sich gefühlt hatte an jenem Tag in Frankreich, als sie ihr Gesicht in die Falten ihres Mantels vergraben und bemerkte hatte, dass der Geruch nach Zedern vollständig verschwunden war.
Clayborne führte sie direkt in das belebte Büro im ersten Stock, schob sie hinter einen Schreibtisch und fing an, sie mit Anweisungen zu überschütten. Das kam ihr gerade recht. Es gab so viel zu tun und alles in einer derartigen Eile, dass sie keine Zeit für anderes haben würde. Auf diese Weise konnte sie sich ihre Erinnerungen am besten vom Hals halten.
Irgendwann standen Sandwiches und Früchte auf der Anrichte, aber sie war viel zu nervös, sodass es undenkbar war, etwas zu essen. Das Haus winkte und flüsterte ihr zu, und wenn sie den Kopf schnell genug drehte, erhaschte sie noch einen Blick auf sich selbst in früherer Zeit: ein Schatten von einem Mädchen mit großen, erschrockenen Augen hinter dicken Brillengläsern.
Draußen seufzte und stöhnte der Wind und peitschte die Pinien. Regentropfen liefen an den Fenstern neben ihrem Schreibtisch herab, und allmählich gelang es dem geschäftigen Treiben und dem weißen Rauschen nicht mehr, sie vor ihren Erinnerungen zu schützen.
Als sie klein gewesen war, hatte es auf Stone Island keine anderen Kinder gegeben, mit denen sie hätte spielen können. Ihr Vater hatte sich zu seinen Büchern in die Bibliothek zurückgezogen oder mit seinem silbernen Flachmann einen Segeltörn gemacht, während ihre Mutter immer öfter in der Wohnung in Seattle geblieben war. Raine hatte sich mit der Stille angefreundet, mit den Bäumen und dem Wasser, mit Steinen und knorrigen Wurzeln. Die ganze Insel war ihr persönliches Land der Fantasie gewesen, bewohnt von Drachen, Trollen und Geistern. Später, in all dem Chaos, als sie von einer Stadt und einer Sprache in die andere reiste, hatte sie sich daran erinnert, was für ein paradiesischer Zustand die Stille auf Stone Island für sie gewesen war. Und diese Fantasiewelt zerrte nun an ihr und wisperte ihr mit tausend Stimmen ins Ohr.
Gegen Ende des Tages kam Clayborne in den Raum
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