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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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und die mit schlafwandlerischer Sicherheit stets jene unsichtbare Grenze zwischen Schicklichem und Unschicklichem ausloteten, ohne sie jemals zu überschreiten, hatte seinen Charme beobachtet, den er sich wie etwas Fremdes überziehen konnte, kaum wurde er ihrer ansichtig, einem Schauspieler gleich, der sich einen inneren Ruck gibt, wenn er vor den Vorhang tritt. Die gelassene Bestimmtheit, die freundliche Nachsicht, mit der Laura Josef zurückwies und auf Abstand hielt, hatte ihn beruhigt, aber auch entmutigt. Was konnte er in seiner Unerfahrenheit mehr bewirken als der andere?
    Doch wie Josef von seiner geheimnisvollen Krankheit getrieben wurde, so verspürte auch er einen unwiderstehlichen Drang, etwas, was ihn gegen jede Vernunft, gegen jede Einsicht handeln ließ. Vielleicht war auch er krank, vielleicht litt jeder Mann an dieser seltsamen Satyriasis, von der Josef berichtet hatte, der eine mehr, der andere weniger, und vielleicht waren selbst Frauen nicht frei davon, mochte sich bei ihnen das Krankheitsbild auch anders darstellen. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage musste er an die stumme Hella denken, die wartende. Auch damals hatte er diese Unruhe verspürt, und mit jedem untätigen Tag, jeder untätigen Stunde war die Spannung gewachsen, bis sie schließlich unerträglich geworden war. Aber etwas hatte ihn zurückgehalten, etwas Stärkeres hatte ihn zögern und zurückweichen lassen. Erst an jenem letzten Tag, nach jener Nacht, in der er aufgestanden war, um sie zu suchen, als er sich völlig sicher gewesen war, sie stünde jetzt, genau in diesem Augenblick in ihrem weißen Nachthemd im hellen Mondlicht, dort an ihrem Treffpunkt vor dem Haus Wiking oder irgendwo anders, an einem Ort, der ihm einfiele, denke er nur eindringlich genug an sie, und den er nicht gefunden hatte, obwohl er die halbe Nacht umhergeirrt war, erst dann hatte er gewagt, sie anzusprechen.
    Im Gegensatz zu damals, als er mit schweißnassen Händen vor dem mageren Mädchen stand und keinen zusammenhängenden Satz hervorbrachte, war es dieses Mal einfach gewesen, es hatte sich fast ohne sein Zutun ergeben.
    Kurz nach dem Frühstück war er mit einem Buch in der Hand wieder im Hof erschienen und hatte sich einen Stuhl in die Sonne gestellt. Den anderen gegenüber, die wie jeden Morgen zum Strand drängten, eine gutgelaunte Karawane, die sich erst sammeln musste und deren Aufbruch sich über eine halbe Stunde hinzuziehen pflegte, hatte er einen Anruf erwähnt, auf den er warte, und sich einige Bemerkungen und Anspielungen über den vermuteten galanten Hintergrund anhören müssen.
    Doch kaum hatten sich ihre Stimmen in der Straße verloren, ereignete sich das, worauf er gehofft, mit dem er aber nicht gerechnet hatte. Laura kam. Er hatte sich so hingesetzt, dass er die Tür im Auge behalten konnte, und so lächelte er ihr zu, freundlich, wenn auch ein wenig überrascht, so als sei er in Gedanken versunken gewesen, bei den Gedichten, die er zu lesen vorgab, bei dem Anruf, der nicht kam, oder als habe er in die Sonne hinein geträumt, wohlig der Wärme entgegenblinzelnd. Auch sie tat beschäftigt, wischte zum wiederholten Male über die Tische, starrte forschend auf dem Boden, bückte sich sogar, um selbst die Ecken genauestens in Augenschein zu nehmen. Beide sprachen sie kein Wort. Dann ging sie hinaus. Nach wenigen Minuten kam sie mit einer Schere wieder und begann den Wein zurückzuschneiden. Für die Triebe hatte sie einen weiß emaillierten Eimer mitgebracht.
    „Wenn man sie nicht zurückschneidet, überwuchern sie alles. Es ist erstaunlich, wie schnell sie wachsen. Jeden Tag nur ein bisschen, so viel, dass man es nicht merkt, und doch, in einer Woche oder zwei kommt man kaum mehr durch die Tür.“ Mit jedem Halbsatz schnitt sie etwas ab, und das Knacken des brechenden Holzes unterstrich die Bestimmtheit, mit der sie sprach, die ruhige Konzentration, mit der sie zu Werke ging. Vielleicht war sie nervöser als er. Es war ihr nicht anzumerken. Noch nie zuvor hatte er sie so lange am Stück reden gehört, aber sie sprach langsam und vermied jeden Dialekt. Dank des Unterrichts, den er in Deutschland zur Vorbereitung auf seine große Fahrt genommen hatte, verstand er fast alles. Eine Weile blieb es still. Ihm fiel nichts Rechtes ein, was er hätte antworten können, und so hörte man nur das Summen der Bienen, die um die Blumentöpfe tanzten.
    „Was lesen sie da?“
    Vielleicht war es Zufall, vielleicht hatte er sich die Seite

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