Die Nadel.
Inspiration allein keinen Hinweis auf die Mittel und Wege bot. Er erinnerte
sich an seine Dissertation über die Reisen eines fast unbekannten mittelalterlichen
Mönches namens Thomas of the Tree . Godliman hatte sich die nicht allzu wichtige,
aber schwierige Aufgabe gestellt, den Reiseweg des Mönches über einen Zeitraum von fünf
Jahren nachzuzeichnen. Es hatte eine rätselhafte Lücke von acht Monaten gegeben, in denen
er entweder in Paris oder Canterbury gewesen war. Godliman konnte den Aufenthaltsort nicht
näher bestimmen, wodurch der Wert der ganzen Arbeit gefährdet war. Die Dokumente, die er
benutzte, schwiegen sich darüber aus. Wenn nicht irgendwo schriftlich niedergelegt war, wo
der Mönch sich aufgehalten hatte, gab es keine Möglichkeit, ihm auf die Spur zu kommen
– damit mußte man sich abfinden. In seinem jugendlichen Optimismus hatte Godliman sich
jedoch geweigert zu glauben, daß es nicht doch einen Hinweis gab. Er war von der
Voraussetzung ausgegangen, daß irgendwo verzeichnet war, wie Thomas diese Monate
verbracht hatte – trotz der bekannten Tatsache, daß fast alles, was im Mittelalter
geschah, nicht dokumentiert ist. Wenn Thomas weder in Paris noch in Canterbury gewesen war,
mußte er sich auf der Überfahrt zwischen den beiden befunden haben – so hatte Godliman
geschlossen. Dann hatte er Dokumente in einem Amsterdamer Museum gefunden, aus denen
hervorging, daß Thomas sich nach Dover eingeschifft hatte; das Boot war vom Kurs
abgekommen und schließlich an der irischen Küste gestrandet. Diese Art beispielhafter
historischer Forschung hatte Godliman schließlich seine Professur eingebracht.
Er
könnte versuchen, mit dieser Denkweise an Fabers rätselhaftes Verschwinden
heranzugehen.
Vermutung Nummer eins: Faber war ertrunken. VermutungNummer zwei: Er hatte inzwischen deutsches Hoheitsgebiet erreicht. Weil
Godliman nichts mehr tun konnte, falls eine dieser beiden Möglichkeiten zutraf, brauchte
er auch nicht länger über sie nachzudenken. Er mußte davon ausgehen, daß Faber noch
lebte und irgendwo an Land gegangen war.
Er verließ sein Büro und stieg die Treppe
zum Kartenraum hinunter. Dort stand sein Onkel, Colonel Terry, eine Zigarette zwischen den
Lippen, nachdenklich vor einer Europakarte. In diesen Tagen war dies ein vertrauter Anblick
im Kriegsministerium: Männer von hohem Rang, die in Karten versunken waren und schweigend
ihre eigenen Berechnungen darüber anstellten, ob man den Krieg gewinnen oder verlieren
werde. Sie konnten das jetzt tun, weil die Pläne alle fertig auf dem Tisch lagen und die
riesige Kriegsmaschinerie in Bewegung gesetzt worden war. Diejenigen, welche die großen
Entscheidungen trafen, mußten jetzt abwarten, ob sie recht gehabt hatten.
Terry sah
Godliman kommen und fragte: »Wie hast du den großen Mann angetroffen?«
»Er trank
Whisky«, sagte Godliman.
»Er trinkt den ganzen Tag, aber es scheint ihm nichts
auszumachen. Was hat er gesagt?«
»Er möchte, daß wir ihm den Kopf der Nadel auf
einem Tablett überbringen.« Godliman ging zur Landkarte, die an der gegenüberliegenden
Wand hing, und legte einen Finger auf Aberdeen. »Wenn du ein U-Boot aussenden müßtest,
um einen Spion abzuholen, wie nahe könnte es deiner Meinung nach an die Küste
herankommen, ohne sich zu gefährden?«
Terry stellte sich neben ihn und betrachtete
die Karte. »Es müßte außerhalb der Drei-Meilen-Zone bleiben. Wahrscheinlich würde
ich sogar Anweisung geben, daß das Boot zehn Meilen vor der Küste stoppt.«
»Richtig.« Godliman zog mit einem Bleistift zwei Linien, die parallel zur Küste
verliefen – die eine im Abstand von drei, die andere im Abstand von zehn Meilen. »Und
wenn du ein Hobbysegler wärest, der von Aberdeen aus in einem kleinen Fischerbootin See sticht, wie weit würdest du hinausfahren, bevor du nervös
wirst?«
»Du meinst: Wie weit kommt man vernünftigerweise mit so einem Boot?«
»Genau.«
Terry zuckte die Schultern. »Frag die Navy. Ich würde sagen,
fünfzehn oder zwanzig Meilen.«
»Einverstanden.« Godliman schlug einen Kreis mit
einem Radius von zwanzig Meilen um Aberdeen herum. »Sollte Faber noch am Leben sein, ist
er also entweder wieder auf dem Festland oder irgendwo in dieser Gegend.« Er zeigte auf
das Gebiet, das von den parallelen Linien und dem Bogen eingegrenzt wurde.
»Dort
gibt’s kein Land.«
»Haben wir eine größere
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