Die Nadel.
»Percy Godliman.«
War es möglich, dachte
Faber, während der Zug weiter durch Lancashire ratterte, daß diese unscheinbare Gestalt
in einem Tweedanzug der Mann sein konnte, der ihn enttarnt hatte? Spione behaupten
gewöhnlich, Beamte oder etwas ähnlich Unbestimmtes zu sein, nicht Historiker – diese
Lüge wäre zu leicht zu entlarven. Doch man munkelte, daß der Military Intelligence durch
eine Anzahl von Hochschullehrern verstärkt worden sei. Faber hatte sie sich als jung,
sportlich, zupackend, kriegslüstern und klug vorgestellt. Godliman war klug, aber die
anderen Eigenschaften gingen ihm ab. Wenn er sich nicht geändert hatte.
Faber hatte
ihn noch einmal gesehen, bei dieser zweiten Gelegenheit aber nicht mit ihm geredet. Nach
der kurzen Begegnung in der Kathedrale hatte er ein Plakat gesehen, das eine öffentliche
Vorlesung Professor Godlimans in seinem College ankündigte – über Heinrich II. Faber
war aus Neugier dorthin gegangen. Die Vorlesung war fundiert, lebendig und überzeugend
gewesen. Godliman war immer noch eine leicht komische Figur, wenn er hinter seinem Pult auf
und ab hüpfte und sich von seinem Thema mitreißen ließ; jedenfalls wurde deutlich, daß
sein Verstand messerscharf war.
Das war also der Mann, der entdeckt hatte, wie die
Nadel aussah. Du lieber Himmel, ein Amateur .
Nun, er würde die Fehler eines
Amateurs machen. Billy Parkin zu schicken war einer gewesen: Faber hatte den Jungen
erkannt. Godliman hätte jemanden schicken sollen, den Faber nicht kannte. Der hätte Faber
zwar nicht so leicht erkannt wie Parkin, aber letzter hatte nicht die geringste Aussicht
gehabt, die Begegnung zu überleben. Ein Profi hätte das gewußt.
Der Zug kam
ruckend zum Stehen. Draußen verkündete eine gedämpfte Stimme, daß man in Liverpool
war. Faber fluchteleise. Hätte er doch die Zeit nicht mit Erinnerungen
an Percy Godliman verplempert, sondern sich lieber überlegt, was er als nächstes tun
sollte!
Vor seinem Tode hatte Parkin gesagt, daß man ihn in Glasgow abpassen
wollte. Wieso Glasgow? Bei den Nachforschungen in Euston mußten sie herausgefunden haben,
daß er nach Inverness fuhr. Wenn sie Inverness für eine Finte hielten, mußten sie
annehmen, daß er hierher kommen würde, nach Liverpool, weil das der am nächsten gelegene
Hafen mit einer Fährverbindung nach Irland war.
Faber haßte übereilte
Entscheidungen.
Auf jeden Fall mußte er den Zug verlassen.
Er stand auf,
öffnete die Tür, stieg aus und ging auf die Fahrkartensperre zu.
Etwas anderes
fiel ihm ein. Was war in Billy Parkins Augen aufgeblitzt, bevor er starb? Nicht Haß, nicht
Furcht, nicht Schmerz – obwohl das alles mitschwang. Es hatte mehr wie . . . Triumph ausgesehen.
Faber blickte auf, vorbei an dem Schaffner, der die Fahrkarten
einsammelte, und verstand plötzlich.
Hinter der Sperre wartete, mit Hut und
Regenmantel bekleidet, der junge blonde Verfolger vom Leicester Square.
Parkin, der
voller Todesangst, erniedrigt und als Verräter gestorben war, hatte Faber am Ende doch
hinters Licht geführt. Die Falle war also hier.
Der Mann mit dem Regenmantel hatte
Faber in der Menge noch nicht bemerkt. Faber drehte sich um und stieg wieder in den Zug. Im
Abteil schob er das Rouleau zur Seite und spähte durch den Spalt. Der Verfolger musterte
die Gesichter in der Menge. Der Mann, der wieder in den Zug gestiegen war, war ihm nicht
aufgefallen.
Faber sah zu, wie sich die Passagiere langsam durch die Sperre
drängten, bis der Bahnsteig leer war. Der blonde Mann redete eindringlich auf den
Schaffner ein, der verneinend den Kopf schüttelte. Der Mann schien nicht nachzugeben. Nacheiner Weile winkte er jemandem zu, den Faber nicht sehen konnte. Ein
Polizeioffizier tauchte aus dem Schatten auf und redete mit dem Schaffner. Der
Aufsichtsführende schloß sich der Gruppe an, gefolgt von einem Mann in Zivil, wohl ein
höherer Eisenbahnbeamter.
Der Lokomotivführer und sein Heizer gingen hinüber zur
Sperre. Wieder winkten die einen, und die anderen schüttelten den Kopf.
Schließlich zuckten die Eisenbahner die Achseln, wandten sich ab oder hoben die Augen
zum Himmel – alles deutete darauf hin, daß sie nachgaben. Der Blonde und der
Polizeioffizier riefen weitere Polizisten herbei, und sie stapften entschlossen auf den
Bahnsteig zu.
Sie würden den Zug durchsuchen.
Alle Eisenbahner,
einschließlich des Lokomotivführers
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