Die nächste Begegnung
Wahrscheinlich hatte sie sich deshalb das Vogelkreischen nur eingebildet.
Eine Weile später sagte sie leise: »Liebling?«
Er schaute auf. »Ja?«
»Fragst du dich jemals, was hier in New Eden eigentlich wirklich geschieht? Ich meine, warum haben uns die Rama- Wesen so ganz und gar im Stich gelassen? Die meisten Leute in der Kolonie leben ihr tägliches Leben einfach so dahin, ohne jemals einen Gedanken darüber zu verlieren, dass sie in einem Interstellarschiff reisen, das von Außerirdischen erbaut wurde. Wie kann so was möglich sein? Warum zeigt sich nicht mal plötzlich der Adler oder sonst eine ähnlich wundersame Manifestation ihrer überragenden Technologie den Leuten? Dann würden unsre ganzen kleinen Probleme ...«
Sie brach ab, als Richard zu lachen begann. »Was ist denn so komisch?«, fragte sie.
»Du erinnerst mich an ein Gespräch, das ich mal mit Michael hatte. Er war unglücklich darüber, dass ich den >Augenzeugenberichten< der Apostel nicht blindlings glauben wollte. Und dann sagte er zu mir, Gott hätte wissen müssen, dass wir eine Rasse von ungläubigen Thomassen seien, und hätte deshalb häufige erneute Besuche des auferstandenen Heilands einplanen müssen.«
»Aber das war doch eine völlig andre Situation«, warf Nicole ein.
»War es das wirklich? Was die Urchristen über den historischen Jesus verbreiteten, kann kaum schwerer zu glauben gewesen sein als unsre Beschreibung des Nodus und unsrer langen zeitdilatanten Reise mit relativistischen Geschwindigkeiten ... Für die übrigen Leute in der Kolonie ist es bei weitem angenehmer zu glauben, dass unser Raumschiff hier von der ISA für ein Experiment gebaut wurde. Nur sehr wenige haben genug Ahnung von Naturwissenschaften, um zu begreifen, dass Rama die menschliche technologische Kapazität unendlich weit überragt.«
Nicole sagte eine Weile nichts. Dann begann sie: »Also gibt es denn nichts, was wir tun könnten, um sie zu überzeugen .. .
Der dreifache Summton unterbrach sie, der ankündigte, dass das eingehende Gespräch dringlich sei. Nicole stolperte durch den Raum, um den Ruf anzunehmen. Auf dem Monitor erschien das besorgte Gesicht Max Pucketts.
»Wir haben eine kritische Situation hier vor dem Untersuchungsgefängnis«, sagte Max. »Eine wütende Menschenmenge, vielleicht siebzig, achtzig Leute, hauptsächlich aus Hakone. Sie wollen zu Martinez vordringen. Sie haben bereits zwei Garcias zerstört und drei weitere angegriffen. Richter Myshkin versucht sie zur Vernunft zu bringen, aber der Mob ist in 'ner ekligen Stimmung. Wie es aussieht, hat Mariko Kobayashi sich vor zwei Stunden umgebracht. Die ganze Familie ist da, auch der Vater ... «
Nicole brauchte keine Minute, dann steckte sie in einem Sportdress. Vergeblich suchte Richard sie aufzuhalten. »Es war meine Entscheidung«, sagte sie und schwang sich auf ihr Fahrrad. »Also darf ich auch vor den Folgen nicht ausweichen.
'Ober den Feldweg fuhr sie behutsam, aber sobald sie auf dem breiten Radweg war, begann sie wild in die Pedale zu treten. Mit Höchsttempo konnte sie das Verwaltungszentrum in vier, fünf Minuten erreichen, mit der Bahn würde sie um diese nächtliche Stunde mehr als doppelt so lang brauchen. Kenji hatte unrecht, dachte sie. Wir hätten heute früh doch eine Pressekon ferenz geben sollen. Dann hätte ich die Entscheidung erklären können.
Auf dem Hauptplatz von Central City drängten sich fast hundert Menschen. Sie wimmelten vor dem Eingang des Gebäudes, in dem Pedro Martinez seiner Festnahme wegen des Verdachts der Vergewaltigung, begangen an Mariko Kobayashi, einsaß. Richter Myshkin stand auf der obersten Stufe vor dem Eingang. Er redete durch ein Megaphon auf die wütende Menge ein. Zwanzig Bioten, überwiegend Garcias, aber auch ein paar Lincolns und Tiassos, bildeten mit verschränkten Armen einen Kordon vor dem Richter und hinderten den Mob daran, die Stufen heraufzukommen.
»Also, Leute«, sagte der grauhaarige Russe, »wenn Pedro Martinez wirklich schuldig ist, dann wird er verurteilt werden. Doch unsere Verfassung garantiert jedem Bürger das Recht auf einen fairen Prozess ...«
»Halt die Klappe, Alter!«, schrie jemand aus der Menge. »Wir wollen Martinez!«, rief ein anderer.
Links vor dem Theaterbau hatten sechs junge Asiaten ein behelfsmäßiges Gerüst gezimmert. Die Menge grölte und jubelte, als einer von ihnen ein dickes Seil mit einer Schlinge am Querbalken des Galgens befestigte. Ein untersetzter japanischer Mann, Anfang
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