Die Nächste, bitte • Ein Arzt-Roman
schnell lasse ich mich nicht unterkriegen. Ich bin bestens ausgebildet, und mit meinen Fähigkeiten werde ich mit Sicherheit irgendeinen anderen tollen Job bekommen. Notfalls nehme ich eine Stelle als Hausarzt in der Lüneburger Heide an, Hauptsache, ich bin weg aus Hamburg. Weg von meinem Vater, weg von Birte und vor allem: weg von Nella.
Eine Stunde später beginnt der Pilot mit dem Sinkflug und manövriert das Flugzeug durch eine unangenehm dichte Wolkenschicht. Eine turbulente Angelegenheit, und ich bin heilfroh, dass keiner der Passagiere nach einem Arzt verlangt. Noch jemand von Nellas Sorte – und ich kaufe mir eine Bahncard.
Die Landung erfolgt holprig, aber sicher. Ohne Eile mache ich mich auf den Weg zur Gepäckausgabe. Und während ich meinen Koffer vom Band fische, schaffe ich es sogar, meine Gedanken auf ein schönes, kühles Feierabendbier zu lenken.
Ein wenig entspannter betrete ich kurz darauf die Ankunftshalle und erstarre, als ich ein bekanntes Gesicht erblicke.
«Mutter! Was machst du denn hier?»
Wenn meine Mutter irgendwo aufkreuzt, ist das in der Regel kein gutes Zeichen. Präzise gesagt bedeutet das Erscheinen meiner Mutter allerhöchste Alarmbereitschaft. Das war schon zu Schulzeiten so. Bestand Mutter auf einem Termin beim Lehrer, bedeutete das für mich nichts Gutes, und die Folgen waren meist verheerend: Am nächsten Tag hatte ich entweder einen neuen Lehrer, eine neue Klasse oder keine Freunde mehr.
Dabei ist sie eigentlich ein besonnener und bescheidener Mensch, der schwer aus der Ruhe zu bringen ist. Sonst hätte sie es mit meinem Vater vermutlich auch nicht so lange ausgehalten. Sie mischt sich ungern in anderer Leute Angelegenheiten ein und glaubt im Großen und Ganzen, dass der liebe Herrgott es schon richten wird. Streit ist ihr zuwider, und sie wird auch nur selten laut. Wenn sie allerdings einmal aus der Ruhe gebracht wird, dann knallt es. Kurz: Sie ist die letzte Waffe meines Vaters in der Not. Wenn er mit seinem Dickkopf mal wieder gegen die argumentative Wand gelaufen ist, schickt er meine Mutter. Und dass sie hier heute am Flughafen auftaucht, ist todsicher auf seinem Mist gewachsen. Woher sollte sie sonst meine Ankunftszeit wissen?
«Hallo Paul.» Mutter sieht müde und abgekämpft aus. Sie trägt einen grauen Hosenanzug mit dezentem Karomuster, der vorn, über dem Busen, etwas spannt. In den letzten Jahren hat sie über Weihnachten angeblich jedes Jahr ein Kilo zugenommen, was sich nun langsam nicht mehr kaschieren lässt. Jedenfalls nicht solange sie sich keine neue Garderobe kauft. Aber sicher hat mein Vater ihr geraten, die Knöpfe versetzen zu lassen oder die Jacke offen zu tragen, damit ihm bloß keine unnötigen Kosten entstehen. Mal sehen, in wie viel Jahren Mutter aus den Nähten platzt.
Jetzt setzt sie ihr Wie-soll-ich-es-dir-nur-sagen-Gesicht auf und hakt sich bei mir unter. «Mein lieber Sohn», seufzt sie und sieht mich vorwurfsvoll von der Seite an. «Was hast du dir nur bei der ganzen Sache gedacht? Dich so klammheimlich aus dem Staub zu machen. Glaubst du nicht
…
» Ruckartig bleibt sie stehen und blickt mir fest in die Augen. «
…
dass dein Vater die Wahrheit verdient hat?»
Spontan fallen mir zwar tausend Dinge ein, die mein Vater verdient hätte, aber faire Behandlung gehört eigentlich nicht dazu. Ich will mich mit meiner Mutter jedoch nicht streiten, jedenfalls noch nicht. Sie trifft ja auch keine Schuld.
Ich schneide eine Grimasse. «Glaubst du wirklich, Vater und ich hätten darüber ein vernünftiges Gespräch führen können?», frage ich und animiere sie zum Weitergehen. «Du weißt doch so gut wie ich, dass es bei manchen Themen zwecklos ist, mit ihm zu reden. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann bringt ihn nichts und niemand davon ab. »
Mutter schweigt.
«Er will nicht modernisieren, er will nicht investieren», fahre ich fort. «Er braucht Hilfe, kann aber nicht loslassen. Dazu kommt, dass er zwar sein Praxis-Konzept nicht ändern will, aber auch nicht möchte, dass ich mich woanders verwirkliche. Was ist denn das bitte schön für eine kranke Logik?» Ich hatte eigentlich nicht vor, so aufbrausend zu werden, aber wenn es um meinen Vater geht, bin ich schnell auf hundertachtzig. «Sollst du mich etwa zur Vernunft bringen?», frage ich argwöhnisch. Schließlich ist Mutter extra zum Flughafen gekommen, um mich abzufangen.
Sie drückt mich leicht am Arm. «Na ja
…
», sagt sie und stockt. «Dieses Mal ist es
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