Die Nächste, bitte • Ein Arzt-Roman
hier vermutlich bessere Stimmung. Vor allem würde es dann vielleicht zu der angekündigten Unterhaltung kommen. Frauen wissen ja bekanntlich in jeder Situation etwas zu sagen.
Ich dagegen stehe stocksteif und ziemlich hilflos am Bett meines Vaters. Und außer dass er in unregelmäßigen Abständen eigenartige Laute von sich gibt, schweigen wir jetzt wieder.
Irgendwann greife ich mir vom Fußende seines Bettes die Krankenakte. Wollen wir doch mal sehen, was hier los ist, denke ich. Als Erstes fällt mir ein haarsträubendes EKG in die Hände. «Du liebe Güte
…
», entfährt es mir, und aus den Augenwinkeln sehe ich meinen Vater blinzeln. «… sind das
deine
Werte?»
Eine unnötige Frage, denn es steht klar und deutlich lesbar sein Name drauf. Er nickt schwach.
Das Wort Herzrhythmusstörungen beschreibt leider nur unzureichend, was auf dem Ausdruck zu erkennen ist. Sofort durchforste ich die Mappe nach weiteren Untersuchungsergebnissen. Außer seinen Blutwerten finde ich noch eine Ultraschallaufnahme des Herzens und ein Stressecho, das auch nicht besonders gut aussieht. «Hat sich Dr. Rahloff das hier schon angesehen?», will ich wissen und halte ihm die Mappe vor die Nase.
Bei der Erwähnung des Kollegen öffnet mein Vater erneut die Augen. Täusche ich mich, oder liegt eine gewisse Panik in seinem Blick? Hm. Vermutlich täusche ich mich, denn dieses Mal hält er meinen forschenden Augen einen Moment stand, während er gleichzeitig resigniert nickt.
«Deshalb wollte ich dich ja sehen», krächzt er und es gelingt ihm, sich ein bisschen weiter aufzurichten. «Sprich bitte nicht mit Dr. Rahloff», presst er müde hervor, «ich würde es dir gern selbst erklären.»
Gut, denke ich, aber das dürfte heute wohl nichts mehr werden. Mein Vater hat die Augen nämlich schon wieder geschlossen und sieht nicht so aus, als könnte er noch zu einer längeren Erklärung ausholen. So langsam wird mir doch ein bisschen mulmig. Obwohl ich als Arzt schon mit vielen Schicksalen konfrontiert wurde, geht mir die Situation hier ungewöhnlich nahe. Ein oft gesehenes Phänomen. Sobald ein Familienangehöriger betroffen ist, kann man sich auch als Mediziner schlecht distanzieren. Und wenn der eigene Vater, der normalerweise keine Meinungsverschiedenheit undiskutiert und keine Schlacht ungeschlagen lässt, plötzlich hilflos vor einem liegt, funktioniert Verdrängen schon gar nicht mehr.
«Versprichst du mir etwas?», fragt mein Vater plötzlich, und es hat den Anschein, als wolle er vor seinem Ableben dringend noch einen letzten Wunsch loswerden.
Ich ziehe mir einen Stuhl heran.
Während ich mich setze, arbeitet mein Hirn auf Hochtouren. Warum soll ich nicht mit Dr. Rahloff sprechen? Immerhin muss hier doch mal einer Licht ins Dunkel bringen. Allein mit den Werten an Vaters Bett kann ich keine schlüssige Diagnose stellen. Warum ist er so geschwächt? Als ich wegfuhr, war doch noch alles in bester Ordnung. Ich muss definitiv mit dem behandelnden Kollegen sprechen, und zwar so schnell es geht.
Mit letzter Kraft legt mein Vater seine Stirn in Falten. Ach ja, das Versprechen. Wie wird der Satz wohl weitergehen? Versprichst du mir,
…
dass auf meiner Beerdigung der Radetzky-Marsch gespielt wird? … dass du mir ein Teil meines Oldtimers mit ins Grab gibst? … dass Mutter nach meinem Tod nicht in Saus und Braus lebt?
«Was soll ich dir denn versprechen?», frage ich und rutsche noch etwas näher, damit er sich für die Antwort nicht so anstrengen muss. Einen Moment warte ich ab, dann fasse ich ihn leicht an die Schulter. Doch sosehr ich ihn auch rüttele – es kommt keine Reaktion. Nur noch leises Schnarchen.
Kurze Zeit bleibe ich unentschlossen an Vaters Bett sitzen. Habe ich mir etwas vorzuwerfen? Hätte ich ihm doch von meinen Genf-Plänen berichten sollen, auch auf die Gefahr hin, dass er ausflippt? Bin ich zu spät gekommen?
Irgendetwas gefällt mir an der Sache nicht. Ich meine, ein Patient mit Vaters EKG -Werten gehört eigentlich auf die Intensivstation. Dazu kommt, dass sein übriges Krankenblatt nicht nur unvollständig ist, sondern auch noch sehr schlampig ausgefüllt wurde. Eigentlich nicht typisch für dieses Krankenhaus. Eigenartig finde ich auch, dass mir meine Mutter so relativ unbekümmert schien. Jedenfalls machte sie auf mich nicht den Eindruck, den man normalerweise macht, wenn ein geliebter Mensch, mit dem man noch dazu seit vierzig Jahren verheiratet ist, im Krankenhaus liegt. Also, wenn Nella
Weitere Kostenlose Bücher