Die Nächte der Aphrodite
Erleichtert schob er das Tor auf.
»Troy.« Die Stimme hallte über den Hof. »So warte doch!«
Unwillkürlich zog er die Schultern hoch und blieb stehen. Noch ehe er sich umdrehte, wusste er, wer ihn gerufen hatte: Der Comte du Plessis-Fertoc, Ghislaines schwachsinniger Gatte, der mit fünfunddreißig Jahren über das Gemüt eines Fünfjährigen verfügte.
Gottergeben wandte er sich um. »Jacques, wie schön, dich zu sehen.«
Der Riese blieb vor ihm stehen und grinste ihn fröhlich an. »Ich freue mich auch. Hast du etwas von Tris gehört? Wann kommt er denn wieder zurück?«
Jedes Mal, wenn sie sich trafen, dieselbe Frage. »Ich weiß es nicht, Jacques, aber ich werde dir sofort berichten, wenn ich Nachricht von ihm erhalte.«
Der Mann zog eine Schnute. »Versprochen?«
»Versprochen.«
Jacques' Pranken klatschten erfreut aneinander. »Das ist gut. Ich gehe jetzt mein Pferdchen Diabolo besuchen. Tris wird stolz auf mich sein, wenn er zurückkommt und sieht, was ich ihm schon alles beigebracht habe.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, rannte der Comte du Plessis-Fertoc an Troy vorbei zu einem Abteil im Stall, in dem ein Rappe stand. Tris hatte ihm das Fohlen im letzten Sommer geschenkt.
Außer Ghislaine war Tris der Einzige gewesen, der mit Jacques umgehen konnte. Der Comte hatte ihn geliebt und verehrt wie einen großen Bruder. Troy dagegen beschlich in Jacques' Gegenwart immer Unbehagen. Deshalb sattelte er eilig sein Pferd und machte sich aus dem Staub, ehe der Comte auf den Gedanken verfiel, ihn zum Abendessen einzuladen.
Auf La Mimosa empfing ihn die gewohnte Einsamkeit. Seit er mit der Köchin einen Streit angefangen hatte, der darin gipfelte, dass ihm Suzanne ihre Schürze wutentbrannt vor die Füße geworfen hatte, lebten außer ihm nur mehr die beiden Knechte Nicolas und François ständig auf dem Gut. Den Luxus eines Kammerdieners hatten sich weder er noch Tris gegönnt. Den Rest der anfallenden Arbeiten auf den Weinbergen und den Obstplantagen erledigten Wanderarbeiter und Tagelöhner. Um die Wäsche kümmerten sich Wäschefrauen aus Lassieux, die regelmäßig vorbeikamen.
Er hatte den beiden Knechten zwei Kammern im Haus zugewiesen, um nicht völlig alleine zu sein. Allerdings mischten sie sich lieber unter die im Gesindehaus untergebrachten Arbeiter, und so saß er abends einsam über Büchern und Weinbestellungen. Was ihn weder davon abhielt, in Erinnerungen an die Vergangenheit zu schwelgen noch diese Erinnerungen in reichlich Wein zu ertränken.
Troy ging in die Küche und holte aus der Speisekammer Butter, Schinken und den Rest des Brotlaibs, den Nicolas vor drei Tagen vom Wochenmarkt mitgebracht hatte. Lustlos trug er die Dinge hinüber in sein Arbeitszimmer und ging noch einmal zurück, da die Weinflasche vom letzten Abend so leer war wie sein Kopf.
Sicherheitshalber nahm er gleich zwei Flaschen aus der Etagere, denn sein Gefühl sagte ihm, dass es heute noch länger dauern würde als sonst, bis er all seine Dämonen ersäuft haben würde.
Mit den Weinflaschen in der Hand durchquerte er die Eingangshalle und hielt unvermittelt inne, denn neben der geöffneten Tür stand eine Gestalt. Besser gesagt, eine Frau.
Langsam kam er näher, doch statt ihm entgegenzusehen, drehte sie den Kopf seitlich, sodass er ihr Profil im Gegenlicht der tiefstehenden Sonne erkennen konnte. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Das konnte nicht sein. Niemals.
Er starrte sie an, bis er direkt vor ihr stand. Ihr Haar glänzte silbern und verhüllte die Hälfte ihres Gesichts. Die andere, die unverhüllte Hälfte erinnerte ihn so schmerzlich an Marie, dass er kein Wort über die Lippen brachte.
»Ich ... möchte zu Marie ... Marie Callière ... oder Rossac, wie sie jetzt heißt.« Ihre Stimme klang leise und dunkel, als müsste sie sich nicht nur für ihr Eindringen hier, sondern für ihre gesamte Existenz entschuldigen.
Sie drehte den Kopf ein wenig und sah ihn aus einem blassgrünen Auge an. Er brachte noch immer kein Wort über die Lippen, sondern blickte sie nur unverwandt an.
Ihre Hand glitt in den weiten Rock und förderte ein zerknittertes Stück Papier zutage, das sie ihm entgegenhielt. »Diesen Brief hat sie mir geschrieben. Ich bin ihre Schwester.«
Er griff danach und überflog die Zeilen, ohne zu begreifen, was er da las. Maries Schwester. Deshalb die Ähnlichkeit. Sie war größer und ihr Haar war heller. Auch besaßen ihre Augen nicht die smaragdene Tiefe wie jene von Marie.
Verzweifelt
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