Die Narbe
zwei Stunden ein paar Takte mit ihr reden müssen. Punkt zwei: Klopft an jede Tür auf dieser Etage und im Erdgeschoss und fragt, ob ein Paket aufgegeben oder abgegeben worden ist. Punkt drei: Auch im Negativfall lässt du alle Paketdienste anrufen und fragen, ob unter dieser Adresse ein Auftrag vorliegt. Punkt vier: Wenn sich der Hausmeister ausgekotzt hat, fragst du ihn, ob er einen gewissen Steinhaus kennt, der – oder die – laut Kalender heute Morgen um neun Uhr einen Termin im Büro des Ermordeten hatte. Punkt fünf: Frage ihn auch, wann der Putzdienst kommt. Es sieht zwar nicht so aus, als wäre er heute schon da gewesen, aber man kann nie wissen. Punkt sechs: Van Loren und ich fahren jetzt zurück ins Präsidium. Alles Weitere dann dort.«
Der Kollege kniff kurz die Augen zusammen und wiederholte die Schlagworte. »Witwe, Hausmeister, Paketdienst.«
Im Präsidium versorgten sie Tanja Hillenbrand, die Pressereferentin, mit den wenigen Informationen, die sie hatten, ohne jedoch den möglichen Zusammenhang mit dem vermeintlichen Selbstmord Alexander Fadens und Reuthers BIID-Erkrankung zu erwähnen. Während des Gesprächs klingelte mehrfach ihr Telefon. Die Kollegen von der schreibenden Zunft wollten die Online-Ausgaben ihrer Zeitungen mit der Eilmeldung des Verbrechens füttern. Und Hillenbrand gab ihnen den Stoff.
Anschließend holten Batzko und er sich in der Kantine belegte Semmeln und zogen sich in ihr Büro zurück. Gerald kannte niemanden, der eine so simple und zugleich positive Beziehung zum Essen hatte wie Batzko. Für ihn bedeutete Essen nicht mehr als die Zuführung von Nahrungsbestandteilen. Die konkrete Form, ob heiß oder kalt, frisch oder vom Vortag, ob Fleisch oder Fisch oder Eier, war ihm komplett gleichgültig, und immer aß er alles mit demselben Appetit. Das Einzige, worauf er achtete, war das ausgewogene Verhältnis von Proteinen und Ballaststoffen. In der ersten Phase seines Bodybuilding-Programms hatte er stets eine Dose mit einem weißlichen Pulver in seinem Schreibtisch gebunkert, aus der er mehrmals täglich einen Drink mit Wasser oder Milch mixte. Als aber hässliche Pickel auf seiner Stirn und unter seinem Bart wucherten, hatte er damit aufgehört.
Noch während er kaute, stellte er sich vor die Magnettafel neben der Tür und zog mit einem schwarzen Boardmarker eine senkrecht gestrichelte Linie durch die Mitte. Auf die linke Seite schrieb er als Überschrift »Faden«, auf die rechte »Reuther«. Nach kurzer Überlegung setzte er in Klammern »Suizid?« hinter Alexanders Nachnamen. Darunter listete er auf: Kattowitz, Franziska, Familie (?), Bekanntenkreis (?); und unter »Reuther«: Witwe, Steinhaus, Paketdienst, Familie (?), Bekanntenkreis (?).
Er kehrte zum Schreibtisch zurück, nahm einen großen Bissen und fragte, mümmelnd wie ein Kaninchen: »Wie heißt dieser Psychoklempner noch mal?«
»Dr. Dirk Chateaux.«
»Was?«
»Chateaux wie Schloss im Französischen, in der Pluralform.«
»Du blöder Angeber«, sagte Batzko und schrieb »Dr. Sch.« genau über die Trennungslinie zwischen den beiden Fällen. Dann nahm er einen Rotstift, umrandete diesen Namen und zog Verbindungslinien zu »Faden« und »Reuther«.
»Habe ich jemanden vergessen?«
»Ich denke nicht. Doch, die Therapiegruppe. Die Mitglieder kennen natürlich auch beide Opfer.«
Batzko schrieb »Therapiegruppe« über die Trennungslinie und darunter »GvL«, mit drei Ausrufezeichen.
»Willst du mich sofort dem Haftrichter vorführen oder darf ich noch zu Ende essen?«, fragte Gerald.
»Überlege ich mir noch«, konterte Batzko, während er sich setzte. Er schob den leeren Teller an den Rand seines Schreibtisches. Weil er vergessen hatte, Servietten in der Kantine mitzunehmen, nahm er ein Taschentuch, um sich die Hände abzuwischen.
»Wir haben einen Fall, oder wir haben zwei Fälle. Falls wir zwei Fälle haben, stellt sich die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen beiden Fällen besteht oder nicht? Falls ein Zusammenhang besteht, stellt sich die Frage, ob dieser Zusammenhang durch die Tatsache begründet ist, dass beide Opfer einen an der Waffel haben und sich freiwillig unters Messer gelegt haben bzw. legen wollten?«
»Wir haben zwei Fälle. Und wir haben einen Hauptkommissar, der die Untersuchungen sofort an sich reißen will.«
»Liegt erstens in meinen Genen und ist zweitens die gerechte Strafe für deinen Verrat. Punkt und Schluss. In welcher Reihenfolge arbeiten wir sie ab? Die Witwe, Steinhaus, den
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