Die Narbe
einen gemeinsamen Freundeskreis haben. Seine Familie lebt im Norden. Er hat … Arno hatte zwei Brüder, seine Eltern leben noch. Das Verhältnis war durchaus gut. Vielleicht nicht so eng, wie man es sich wünschen würde, aber gut.«
»War er in einem Sportverein? Hatte er frühere Studienkollegen, mit denen er sich gelegentlich traf? Hatte er Hobbys? Verzeihen Sie, wenn ich Sie zu diesem Zeitpunkt mit meinen Fragen löchern muss, aber wir müssen so viel wie möglich über Ihren Mann in Erfahrung bringen.«
Sie lächelte kurz, ein bitteres, hartes Lächeln. »Wenn Sie ihn vor dem Mord gesehen hätten … Arno konnte mit Sport nichts anfangen. Außerdem hatte er seit seiner Kindheit Probleme mit der Wirbelsäule. Und Hobbys? Wirkliche Hobbys hatte er nicht. Vielleicht klassische Musik. Wir gingen gelegentlich in ein Konzert im Gasteig oder in die Oper. Sein eigentliches Hobby war sein Beruf: Computer und Internet.« Sie sprach konzentriert, mit tiefer Stimme, und gleichzeitig sehr langsam, als suche sie nach den richtigen Worten. Gerald dachte an die offene Tablettenpackung auf dem Esstisch.
»Wir haben in seinem Kalender im Büro den Namen einer Person gelesen«, sagte Batzko, »mit der er heute früh offenbar eine Verabredung hatte: Steinhaus.«
»Ja. Harald Steinhaus. Er war sein Geldgeber und Teilhaber der Firma. Arno war das, was man einen genialen Tüftler nennt. Er hatte mehrere Software-Patente, seine Ideen erhielten Preise auf Messen für innovative Existenzgründer, aber er bekam keine Kredite von den Banken. Er war am Ende völlig zermürbt; für einen Euro, den man von der Bank will, muss man Sicherheiten für zehn Euro bringen, hat er einmal gesagt. Und irgendwann, nach langem Suchen, hat er diesen Harald Steinhaus kennengelernt. Er muss über ein hohes Privatvermögen verfügen und stellt vielversprechenden Unternehmern das nötige Kapital zur Verfügung. Statt Zinsen zu erheben, bekommt er Anteile an der Firma. Wenn sie sich durchsetzt, erzielt er eine hohe Rendite; wenn die Firma scheitert, ist er natürlich sein Geld los. Aber er war von Anfang an von Arno und seinem Konzept überzeugt.«
Gerald unterbrach sie: »Ich höre eine gewisse Skepsis in Ihrer Stimme, Frau Reuther. Oder täusche ich mich?«
Sie hob resigniert die Schultern. »Spielt das eine Rolle, was ich von ihm hielt?«
»Durchaus.«
Sie presste die Lippen aufeinander, bevor sie antwortete: »Gut, ich halte ihn für einen Aufschneider. Nach eigener Aussage hat er in knapp zwei Jahren an der Londoner Börse ein kleines Vermögen verdient. Er trat für meinen Geschmack etwas zu lässig, zu überheblich und zu teuer gekleidet auf und hatte immer einen coolen Spruch auf den Lippen. Wir waren zwei- oder dreimal mit ihm essen. Ich habe ihn allerdings nie persönlich bei der Arbeit erlebt. Arno jedenfalls hatte viel für ihn übrig. Er war natürlich auch heilfroh darüber gewesen, sein Vorhaben endlich in die Tat umsetzen zu können, ohne sich von den Banken von oben herab behandeln lassen zu müssen.«
»Dann wird der Tod Ihres Mannes ein schwerer Schlag für Herrn Steinhaus sein. Oder hatte Ihr Mann bereits Mitarbeiter, die ihn ersetzen könnten?«, fragte Batzko.
»Nein. Er war gerade erst dabei, sich nach geeigneten Leuten umzusehen«, antwortete sie, und Gerald dachte an die beiden Arbeitsplätze im Büro, so perfekt eingerichtet wie ein Hotelzimmer, das auf Gäste wartet.
»Hatte Ihr Mann eine Lebensversicherung oder dergleichen abgeschlossen?«
»Ja, es gibt eine Lebensversicherung.«
»Zu Ihren Gunsten? Ich muss Sie das fragen.«
Sie nickte, und ihr Blick wanderte wieder nach draußen, zu einer Schaukel, die im Garten stand.
Gerald räusperte sich. »Frau Reuther, befand sich Ihr Mann in ärztlicher Behandlung?«
Katja Reuther zuckte zusammen, als hätte sie einen Stromschlag erlitten. »Was hat das mit seinem Tod zu tun? Das ist doch … Sagten Sie nicht …« Sie war erregt, gleichzeitig verlangsamten die Tabletten ihre Sprachmotorik mit dem Ergebnis, dass sie abwechselnd zu schnell und zu langsam sprach, wie ein Tonband, das man in erhöhter oder verlangsamter Geschwindigkeit ablaufen lässt.
»Bitte regen Sie sich nicht auf und beantworten Sie einfach meine Frage.« Sie wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen. »Ja … Mein Mann hatte sich in psychologische Behandlung begeben. Das heißt, es war eigentlich keine Behandlung im klassischen Sinn, sondern eine Gruppentherapie, die seine sozialen Kompetenzen
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