Die Narben der Hoelle
…
31
September
Türkei
Mit der Gewissheit, etwas Bedeutsames erfahren zu haben, erwachte er schlagartig.
Oder hatten ihn die Hitze und die Schmerzen aus dem Schlaf geholt, die er überall in seinem Körper fühlte?
Müde warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Viel länger als zwei Stunden hatte er nicht geschlafen.
Da waren Bilder gewesen in seinem Traum, verstörende Bilder.
Was hatte er gesehen?
Seltsame Unruhe ergriff ihn. Mit großer Kraft drängte etwas in ihm ans Licht, versuchte, die Sperre zum Bewusstsein zu überwinden. Wie heiße Magma, die aus der Tiefe emporschoss, vom Ausbruch nur noch zurückgehalten von einer Membran im Inneren des brodelnden Vulkans.
Mühsam setzte er sich auf, kniete sich auf die Koje und steckte seinen Kopf durch das offene Decksluk.
In harmloser Ruhe lag die See da, nur ein paar kleine Wellen waren vom Sturm übriggeblieben, von dem Tornado, der hier mit brutaler Gewalt durchgezogen war. Der Himmel war so unschuldig blau und wolkenlos, wie er nur sein konnte, und die Nachmittagssonne brannte auf die Yacht herunter.
Sanft wiegte sich die Akgül in einer schwachen Dünung.
Vor wenigen Stunden noch, als er mit dem Gesicht nach unten im Salon auf dem Boden lag und auf das Ende wartete, hätte er keinen Cent darauf gewettet, dass die Yacht jetzt noch schwamm.
Der graue Rüssel war etwa zehn Meter an Steuerbord vorbeigerast. Sein Sog riss das Schiff auf die Seite, als wäre es aus Pappe. Alles, was an Backbord gestaut war, stürzte krachend herunter, und das dicke ,Hafenhandbuch für das östliche Mittelmeer’ setzte mit einer unsanften Landung auf seinem Hinterkopf die kleinen Zahnrädchen wieder in knirschende Bewegung.
Es war mehr als knapp gewesen: Nur wenige Grad mehr Krängung, und die Yacht wäre durchgekentert.
Mit einem irrwitzigen Krachen war dann der Großbaum mitsamt dem Segel abgerissen und fortgesogen worden. Kurz darauf verklang das höllische Kreischen des Tornados so schnell, wie es herangenaht war, und die Akgül richtete sich quälend langsam, dem Gewicht ihres Bleikiels folgend, wieder auf.
Als Johannes an Deck gestiegen war, stellte er verwundert fest, dass der Mast, von seinen Stagen und Wanten gehalten, immer noch stand. Von Baum und Großsegel aber gab es weit und breit keine Spur, ebenso wenig vom Vorsegel, das offenbar vom Rollvorstag abgewickelt und fortgerissen worden war. Aber kein größerer Wassereinbruch war zu verzeichnen, die Scheiben und Luken waren unbeschädigt geblieben, und auch die Leckpfropfen hielten immer noch dicht.
Er hatte kurz nach der Katze gesehen und sie verängstigt, aber unversehrt in der Achterkammer vorgefunden. Dann war urplötzlich alle Kraft aus seinem Körper gewichen.
»Akku leer … «, hatte er gebrabbelt und war fast zusammengebrochen, als er nach vorn zu seiner Koje wankte.
Die Augen fielen ihm zu, und er schlief schon, bevor er auf die Matratze gesunken war.
Der Vulkan brodelte immer ungeduldiger.
Johannes legte sich wieder auf den Rücken, blieb, nackt bis auf seine Shorts, noch ein paar Atemzüge lang auf der Koje liegen und konzentrierte sich darauf, den Traum zurückzuholen.
Die Wasserhose war darin vorgekommen. Und ein furchtbares Chaos, viel schlimmer noch als jenes, das der Tornado auf der Yacht angerichtet hatte. Trümmer, die donnernd niederstürzten. Schutt, der ihn fast begrub. Spitze, glühende Eisenteile, die auf seine Augen zuschössen. Dumpfer Verwesungshauch, der ihm in die Nase drang, und undurchsichtiger, gelbgrauer Staub, der ihm die Sicht nahm.
Explosionen. Schüsse, deren wiederkehrendes Echo gellend in seinen Ohren hallte …
Er konnte nicht fliehen, war eingeschlossen in einer Glocke aus Felsgestein. Wo er auch hinlief, stieß er an nackte, feuchte Wände. Wenn er seinen Blick hob, sah er in dunkle Augen, wohin er auch schaute. Überall waren sie, beobachteten ihn bei jeder seiner Bewegungen, verfolgten seine taumelnden Schritte entlang der Wand, immer im Kreis.
Die Augen redeten mit ihm. Er verstand ihre Sprache nicht, aber er wusste, was sie sagten.
Sie klagten ihn an.
Plötzlich eiskalt, von Kopf bis Fuß zitternd, setzte er sich auf. Er musste fliehen – aber wie?
Sofort fiel es ihm ein: Er brauchte nur die Füße auf den Wellenteppich zu setzen, dann wäre alles gut. Dann wäre er in Sicherheit …
Er schob seine eisigen Beine von der Matratze auf den Boden und versuchte, sich aufzurichten.
Da geschah es.
Der Tornado fuhr ihm kreischend in den Kopf, und die
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