Die neue Historia des Dr. Faustus 01 - Der Engelspakt
Mädchen an. Plötzlich öffnete sie die Lider wieder, und zum ersten Mal sah ich sie weinen. Die Tränen quollen aus ihren Augen und verloren sich in der schuppigen Oberfläche ihrer Wangen. Dann nickte sie sachte.
»Angelina?« fragte ich noch einmal.
Sie nickte erneut, diesmal heftiger.
Ich strahlte sie an und hoffte, daß es ermutigend wirkte. Ihre Tränen rührten mich bis ins Innerste. Mein erster Gedanke war, sie ihr abzutupfen, doch ich fürchtete, ihrer zerstörten Haut damit Schmerzen zuzufügen. Warum weinte sie? Was bedeutete das Wort Engel für sie?
Faustus, in Gedanken längst einen Schritt voraus, ging vor uns in die Hocke und zeichnete die beiden Symbole aus eigener Hand noch einmal in den Staub. Angelina ließ es geschehen, ohne die Zeichnungen erneut zu verwischen.
Mein Meister deutete erst auf die grobe Engelsfigur am Boden, dann auf Angelina. Dabei sagte er kein Wort.
Das Mädchen sah ihn aus großen Augen an, beugte sich vor und zog einen Pfeil zwischen den beiden Symbolen. Er zeigte von der Kirche auf den Engel.
Was hatte das zu bedeuten? Wo war die Verbindung zwischen den beiden, abgesehen von der offensichtlichen, religiösen? Gab es überhaupt eine andere? Und wenn nicht – weshalb wies Angelina uns dann darauf hin?
»Ein Engel, der aus einer Kirche kommt«, murmelte Faustus.
»Was heißt das?« fragte ich.
Ich weiß nicht, ob Angelina meine Worte verstand. Sicher ist, sie begriff ihren Sinn, denn sie streckte erneut den Finger aus, um die Zeichnung zu ergänzen.
Neben den einen Engel zeichnete sie nun ein halbes Dutzend weitere. Dann nahm sie sich erneut den ersten vor, jenen, den Faustus gezeichnet hatte, und verwischte seine Flügel. Sie deutete erst auf ihn, dann auf sich selbst.
»Ein Engel ohne Flügel«, sagte Faustus.
»Aber wie kann sie glauben, daß sie ein Engel ist?« fragte ich verwirrt.
Er zuckte mit den Achseln. »Dafür kann es verschiedene Erklärungen geben«, sagte er. »Krankheit, Visionen, Rauschzustände.«
»Ihr glaubt, sie sei krank… im Geiste?«
»Ich weiß es nicht«, gestand er. »Niemand verkraftet solche Verletzungen ohne Spuren.«
Ich wollte etwas darauf erwidern, doch im selben Augenblick klopfte es an der Tür, und Hauptmann von Berlepsch bat um Einlaß. Faustus öffnete ihm, während Angelina eilig die Zeichnungen verwischte. Berlepsch trat ein, mit einem großen Stapel Decken in den Armen. Offenbar vertraute er unsere Versorgung nicht einmal seinen engsten Untergebenen an.
Nachdem er seine Last abgelegt hatte, wollte er sich umdrehen und gehen, doch Faustus hielt ihn zurück.
»Sagt, Hauptmann, wer ist der andere Gast, der am Abend die Burg erreichte?«
Berlepsch fuhr unmerklich zusammen. Es schien, als könne er sich nicht erklären, woher mein Meister davon wußte. »Wann habt Ihr ihn gesehen?« fragte er statt einer Antwort.
Faustus lächelte schwach. »Gar nicht. Und doch weiß ich, daß er hier ist. Ist es jemand, über den wir Näheres wissen sollten?«
In jeder anderen Lage hätte er Berlepschs Gastfreundschaft mit solch forschem Drängen auf die Probe gestellt. Doch die Umstände sprachen für uns. Vorsicht konnte uns der Hauptmann schwerlich zum Vorwurf machen.
»Er bat mich, zu niemandem über ihn zu sprechen«, sagte Berlepsch nach kurzem Zögern. »Genauso wie Ihr selbst. Ihr solltet das respektieren.«
»Können wir mit ihm reden?« bat Faustus.
Der Hauptmann seufzte. »Das muß er selbst entscheiden. Ich werde ihm Euren Wunsch überbringen.«
Damit wandte er sich um und ging.
»Ihr habt doch einen Verdacht, nicht wahr?« fragte ich, nachdem Faustus hinter Berlepsch abgeschlossen hatte.
»Nicht wirklich«, gestand er. Es klang aufrichtig. »Ich glaube, daß der Mann ein Geistlicher ist, denn sein Pferd trägt das Wappen des Bischofs als Brandzeichen.«
»Also ein Knecht Asendorfs«, entfuhr es mir erschrocken.
»Nicht unbedingt. Zudem scheint der Mann wie wir auf der Flucht zu sein, wenn er solch ein Geheimnis um seinen Aufenthalt auf der Burg macht.«
»Er könnte ein Spion des Hexenjägers sein«, gab ich zu bedenken.
Faustus schüttelte den Kopf. »Berlepsch wird ihn nur unter zwei Voraussetzungen aufgenommen haben: Entweder, er kennt ihn bereits seit längerem, oder aber er konnte ähnliche Fürsprecher aufweisen wie wir. Beides scheint mir gegen einen Spion zu sprechen. Doch laß uns erst abwarten…«
Damit schien es ihm ernst zu sein, und ich bohrte nicht nach weiteren Antworten. Wenn Berlepschs Gast wie
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