Die neue Lust am Essen: Vom Laster Nikotin und Fastlife zu Lebensgenuss und Slow Food (German Edition)
Phosphor, jede Menge Vitamine, Aminosäuren für die Glückshormone und vieles andere mehr. Sie schenkt uns Power, sättigt lange, stärkt unsere Nerven und unser Gehirn und macht uns glücklich und schlank. Und wenn wir sie gar mit Haut und Haaren verzehren, gibt sie uns alles, was sie nur kann.
Längst ist das Vorurteil ausgeräumt, sie sei ein Dickmacher und daher für ernährungstechnische Strategien gegen den Barockengel ungeeignet. Heute kennt man ihre wahren Qualitäten, und die tolle Knolle aus den Anden passt wunderbar auf jeden Teller.
Ob püriert oder gestampft, als Rösti oder Gröstl, in Folie oder Olivenöl, mit Petersilie oder Rosmarin, als Carpaccio oder Salat, als knusprige Ofenchips oder einfach in der Schale gekocht – der Verzehr der edlen Verwandlungskünstlerin kann zum reinsten Vergnügen geraten.
Dass sich in den Reigen all dieser Köstlichkeiten sogar ein Dessert fügt, verdanke ich meiner Mutter, die nach einem alten Rezept eine Süßspeise zubereitete, die, wie es hieß, einst in Böhmen erfunden und später mit dessen legendären Köchinnen nach Wien gelangt war. Ich nannte sie bald nur noch „Mohntraum“. Wer jemals Skubanky serviert bekam, wird verstehen, warum.
Young, slim and healthy
Ernährungswissenschaftler, Ärzte, Lifestyle-Experten und die Lobbyisten der Gesundheitspolitik haben in den letzten zwanzig Jahren ganze Arbeit geleistet, um ihre Anliegen mit Nachdruck unters Volk zu bringen. Parallel zu dieser verdienstvollen Aufklärungsarbeit hat sich ein Menschenbild entwickelt, das nun als Idealbild dient, dem wir entsprechen wollen – oder sollen. „Young, slim and healthy“ lautet die zeitgeistige Botschaft, die uns eine stets auf Hochtouren laufende PR-Maschinerie eintrommelt.
So wissen wir heute ganz genau, dass wir nicht rauchen dürfen, uns gesund ernähren, viel bewegen und intensive Sozialkontakte pflegen müssen, wenn wir möglichst lange gesund und fit bleiben wollen. Die Pflege des Körpers hat Kultstatus erreicht, und ein gigantischer Industriezweig lebt mittlerweile von unserem Wunsch nach Perfektion.
Was die Natur uns nicht beschert hat oder was wir aus eigener Kraft nicht schaffen, lässt sich – so behauptet es jedenfalls die einschlägige Werbung – mit immer raffinierteren Mitteln immer leichter korrigieren. Da wird alles aufgeboten, was dazu dient, uns in die aktuell gültige Norm zu pressen, damit wir dem Vorbild gleichen.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob uns dieses verordnete Dauerwohlbefinden tatsächlich glücklich macht und zu mehr Lebensgenuss befähigt oder nur einen zusätzlichen Stressfaktor in unserem ohnehin schon stressgebeutelten Dasein schafft. Dieses Thema wollte ich im Rahmen des Unterrichts in einer Psychologiestunde behandeln und befragte daher zum Einstieg meine Schüler nach deren Wertvorstellungen. Es ergab sich sofort eine rege Debatte und während die meisten noch diskutierten, stellte mir einer die Gegenfrage. Er wollte wissen, welches Gefühl ich am stärksten mit meiner eigenen Jugendzeit verband.
Freiheit natürlich, sagte ich spontan. Ich hatte mich frei gefühlt, ich war frei gewesen.
Frei? – Plötzlich blickten mich alle erstaunt an, als hätte ich etwas völlig Unpassendes gesagt. Offenbar war keinem von ihnen auch nur annähernd dieser Gedanke gekommen. Also musste ich ihn präzisieren.
Aber wie erklärt man Freiheit? Das war gar nicht so einfach. Außerdem bestand die Gefahr, rückblickend vieles verklärt zu sehen. Obwohl ich mich wirklich noch sehr gut an dieses starke Gefühl erinnern konnte, das mich begleitete, vor allem während meiner Studienzeit, aber auch schon früher.
Ich hatte eine Jugend ohne Sicherheitsgurt, sagte ich. Der Vergleich gefiel mir. Eine Jugend ohne Sicherheitsgurt …
Es war ja so Vieles erlaubt, was man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Das Rauchen sowieso, aber auch das Trinken sah man nicht so streng. Die Autofahrer von damals durften um einiges mehr Alkohol im Blut haben als die von heute, auf Autobahnen ungestraft rasen und mussten sich dabei nicht einmal anschnallen. Diesbezügliche Verbote waren allesamt Erfindungen von später.
Wir blieben noch eine Weile bei den Normen meiner Jugendzeit, dann besprachen wir die Wertvorstellungen meiner Schüler, wobei genau das zum Vorschein kam, was ich vermutet hatte. Auch sie waren, wie ich selbst vor dreißig Jahren, bloß Kinder des Zeitgeistes.
Fleiß, Ehrgeiz, Ordnung und Sicherheit, das war für sie wichtig, und
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