Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
Fantastisch!«
*
Der Himmel zeigte sich wolkenverhangen, als sich an der Zeus-Eiche in der Ebene des Skamander einige vermummte Gestalten trafen. Es waren vier Männer und eine Frau, und alle fünf hatten den gleichen Beruf: Seher.
Es trafen sich Kalchas, der Achäer, Nostr'tut-Amus, der Ägypter, Helenos und Kassandra aus Troja und Mopsos, der erst vor kurzem aus seiner Heimatstadt Milet eingetroffen war. Noch nie zuvor hatte es eine derartige Versammlung von hellsichtigen Menschen gegeben.
Keine und keiner von ihnen aber wusste, wer oder was sie zu diesem Treffen veranlasst hatte. Ohne Verabredung waren sie aufgebrochen, und ohne vorherige Absprache trafen sie sich nun bei der Zeus-Eiche.
»Ich vermute, eine höhere Macht führte uns zu dieser Stunde an diesen Ort. Weiß jemand von euch, warum wir uns hier treffen?«, eröffnete Kalchas das Gespräch.
Alle verneinten, und die Spannung war fast mit den Händen zu greifen. Am Himmel färbten sich die Wolken von Grau zu Schwarz, und ein Donnergrollen rollte über die Ebene.
»Zeus? Meint ihr, Zeus steckt dahinter?«, fragte Helenos und suchte am dunklen Himmel nach weiteren Zeichen.
In diesem Moment schlug ein Blitz in die Eiche und spaltete sie bis auf den Boden.
»Zweifellos Zeus«, rief Kalchas. »Fragt sich nur noch, zu welchem Zweck wir hier sind.«
»Vielleicht um unsere Heerführer zu warnen?«, mutmaßte Kassandra. »Obwohl dies in meinem Fall sinnlos wäre. Auf mich hört ja doch keiner.«
»Aber welchen Sinn hätte dann mein Erscheinen?«, fragte Mopsos. »Ich bin mein eigener Herr, ich diene niemandem!«
»Vielleicht führten die Götter dich hierher, weil du mein Schicksal bist. Denn mir wurde prophezeit, dass ich in dem Augenblick den Tod finden werde, in dem ich auf einen Seher treffe, der mehr kann als ich selbst. Oder bist es vielleicht du, Ägypter?«, fragte Kalchas düster.
»Ich hatte noch nie irgendeine Vision, die deine Person betrifft!«, versicherte Nostr'tut-Amus schnell, und auch Mopsos erinnerte sich an kein Erscheinen des Kalchas in seinen Traumbildern.
»Wie dem auch sei«, beendete Kalchas das Thema seines eigenen Dahinscheidens. »Es gibt sicher einen Grund, warum wir hier sind. Lasst uns gemeinsam versuchen, diesen herauszufinden!«
»Vielleicht sollte ich euch derweil mit einer heiteren Geschichte unterhalten, bis sich der Himmel uns offenbart?«, schlug Mopsos vor und begann: »Wisset, mein Großvater war der berühmte blinde Seher Teiresias, derjenige, der einst Zeus erklärte, dass Frauen beim Liebesspiel mehr Spaß haben als Männer. Er wusste es nämlich ganz genau, weil er selbst sieben Jahre als Frau auf Erden wandelte. Als er zwei kämpfende Schlagen trennte, durchfuhr ihn ein Blitz und verwandelte ihn in eine Frau. Und das hat mein Großvater dann ziemlich ausgenutzt. Hahaha …«
Ein weiterer Blitz schlug krachend in die bereits gespaltene Zeus-Eiche ein. Diesmal fing der Baum Feuer, und seine Flammen erleuchteten die Szenerie.
»Gut, gut, dann erzähle ich euch die Geschichte eben ein andermal weiter. Hat jemand inzwischen eine Idee, warum wir hier sind?«
»Ja«, sagte Kassandra. »Wir sollen die warnen, die wir lieben. Wir sollen die in Sicherheit bringen, die uns am Herzen liegen. Und wir sollen uns vor Verrat in Acht nehmen!«
»Klingt nicht besonders aufregend«, warf Mopsos ein.
»Es ist aufregend!«, empörte sich Kassandra. »Unter uns ist nämlich einer, der alles verraten wird, was ihm im Leben lieb und teuer ist. Und unter uns ist einer, der einem anderen den Tod bringen wird. Und keiner von uns wird seine Heimat je wieder sehen, wenn geschehen ist, was geschehen wird!«
»Lass die Schwarzseherei, Kassandra!«, ermahnte Helenos seine Schwester. »Ich denke, die Göttlichen wollten einfach, dass sich die größten Seher der Menschheit einmal kennen lernen.«
Schwätzer, dachte sich Nostr'tut-Amus. Dann sagte er laut: »Ich bezweifle, dass ein Gott zweimal einen Blitzstrahl sendet, nur um einem Treffen von Sehern einen dramatischen Akzent zu verleihen und es zu illuminieren. Ich komme aus Ägypten und stehe deshalb nicht unter dem Bann des Apollon. Ich kann Kassandra Glauben schenken, auch wenn euch dies verwehrt ist!«
Kassandra sah Nostr'tut-Amus dankbar an.
»Das soll der Zweck dieses Treffens sein? Den Unkenrufen dieser Untergangsprophetin Gehör zu schenken? Mir reicht es jetzt wirklich, ich gehe!«, rief Mopsos und stapfte mürrisch davon.
Kalchas senkte nachdenklich den Kopf.
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