Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
ein.
»Das ist der Wagwald«, antwortete Cadvan auf Maerads Frage nach dem Namen des Waldes. »Er zählt zu den ältesten in Annar und ist ein Überrest der uralten Wälder, die einst das Land vom Meer bis zu den Bergen bedeckten. Dies ist ein wilder Ort, daher ist Vorsicht angebracht. Für Menschen ist hier wenig Platz.«
Während sie zwischen den Bäumen hindurchritten, beschlich Maerad das Gefühl, der Wald sperre sich gegen sie. Er schien sie mit einem Bewusstsein zu beobachten, das fremdartig, aber nicht gänzlich unfreundlich wirkte. Das Gefühl verstärkte sich, je tiefer sie eindrangen. Die Bäume wurden immer dicker, das durch den verflochtenen Baldachin dringende Licht immer spärlicher, dennoch empfand Maerad keine Furcht. Wäre Cadvan nicht bei ihr gewesen, hätte sich dies vielleicht anders verhalten; obwohl er behauptete, dies sei kein böser Ort, spürte sie eine Macht, die durchaus feindselig sein konnte, wenn sie angegriffen wurde.
Die Schatten wurden länger, und bald hielt Kälte rings um sie Einzug. Cadvan sah sich im Reiten um, schien nach etwas Ausschau zu halten, und schließlich lenkte er sie vom Pfad weg zu einer kleinen Senke ähnlich dem Hain Irihel, wo Cadvan und sie die erste Nacht nach ihrer Flucht vor Gilman verbracht hatten. Diese Lichtung bestand aus in einem Halbkreis so dicht aneinander gewachsenen Ebereschen, dass ihre Aste sich ineinander verflochten. Der weiche Grasboden fiel zu einer Quelle hin ab, die aus einem Felsvorsprung hervorplätscherte, auf dem wilde Rosen und Geißblatt wucherten. Halb hinter den Gewächsen verborgen lag eine Höhle mit sandigem Boden, wo unverkennbar schon viele Male Leute ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie besaß sogar eine behelfsmäßige Feuerstelle aus losen Steinen.
»Das ist ein Derenhel oder Waldhort«, erklärte Cadvan, als er ihr die Höhle zeigte. »Es ist ein Bardenheim. Davon gibt es etliche, über ganz Annar verteilt.« Er sprach mit den Pferden, nahm ihnen die Sättel ab und ließ sie auf der Lichtung grasen. Während der Reise hatte Maerad noch nie beobachtet, dass Cadvan sein oder ihr Pferd anband; er bat sie einfach, in der Nähe zu bleiben, und sie entfernten sich niemals weit.
Cadvan und Maerad ergriffen ihre Bündel und betraten die Höhle. Anschließend sammelten sie ein paar abgefallene Zweige ein, und Cadvan entfachte ein Feuer, das die Düsternis, die sie beide seit Fürst Kargans Neuigkeiten umfangen hatte, ein wenig zu verdrängen vermochte. Anfangs sprachen sie nicht über Dernhils Tod, als wäre dies eine für Worte zu heikle Angelegenheit, aber das Wissen darum schwelte so oder so unter ihrer Unterhaltung, bildete einen Schatten aus Kummer und Angst.
Nach den vergangenen zwei Tagen im Sattel fühlte Maerad sich steif und wund. Sie streckte sich und verzog das Gesicht. »Au! Ich glaube kaum, dass ich morgen in der Lage sein werde zu laufen«, sagte sie. »Geschweige denn zu reiten. Ich fühle mich, als wäre ich am ganzen Leib mit Stöcken geprügelt worden.«
»Noch ein paar Tage und du gewöhnst dich daran«, gab Cadvan zurück. »Aber ich kann ein paar Bardenkniffe anwenden und dich von den schlimmsten Verspannungen befreien.« Er forderte Maerad auf, sich vor ihn zu stellen, dann ließ er die Hände rings um ihren Körper wandern, ohne sie dabei zu berühren. Wo seine Hände vorüberstrichen, verspürte Maerad eine kribbelnde Wärme, und die Schmerzen ließen nach. Anschließend konnte sie sich ohne Unbehagen setzen, wenngleich sie sich immer noch erschöpft und etwas wund fühlte.
»Zauberei!«, rief sie und streckte die Beine vor sich aus.
»Manche nennen es so«, bestätigte Cadvan. »Barden bezeichnen es als das Wissen. Wobei das deine noch bestimmte Lücken aufweist, kleine Elevin.« Müde grinste er. »Zuerst essen wir etwas, dann sollte ich mit deinem Unterricht anfangen.« »Es gibt so viele Dinge, die ich wissen möchte«, sagte Maerad. »Oh, jede Menge. Warum konnte ich den Raben verstehen, obwohl ich die Hohe Sprache nicht beherrsche? Und was ist die Hohe Sprache überhaupt? Wie kann ich sie kennen, ohne sie zu kennen?«
»Um die Hohe Sprache zu erklären, brauchte man ein ganzes Leben«, erwiderte Cadvan und holte Essen aus seinem Bündel hervor. »Was Kargan angeht, den konntest du verstehen, weil er sich deiner Sprache bediente. Raben sind die einzigen Tiere, die solchermaßen mit Menschen reden können, weshalb man sie verehrt. Die Raben von Inneil sind von uralter Abstammung und weise wie
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