Die Pension am Deich: Frauenroman
würden.«
»Danke.«
»Wofür?«
»Für das Vertrauen.«
»Also Mama, du bist zur Zeit richtig Scheiße drauf.«
»Ich weiß. Aber hör mal Juliane, ich will keinen Streit. Das ist das Letzte, was ich brauche.«
»Ich auch nicht. – Hör mal, Mama?«
»Ja.«
«Nimm es mir nicht übel, aber lass bei dir doch mal einen Hormonspiegel machen.«
»Wieso?«, fragt Tomke verdattert.
»Wechseljahre«, sagt Juliane übergangslos sanft. »Schon mal davon gehört?«
Tomke schluckt trocken: »Ich denke darüber nach.«
»Mach das. Und ich koche morgen Nudeln mit Butter und Tomatenmark. Wahrscheinlich lobt Ben mich dafür über den grünen Klee. Ist sein Kindheitslieblingsgericht. Bis dahin, und geh mal zum Doc.«
»Mach ich, bis dahin, Juliane.«
Wechseljahre. Tomke setzt mechanisch Teewasser auf. Klar hat sie schon davon gehört. Blöde Frage. Schließlich ist sie einundfünfzig Jahre alt. Aber bislang ist sie von den Auswirkungen der Hormonumstellung verschont geblieben. Sie hatte auch keine Muße, darüber nachzudenken. Erst Geralds Tod und dann die wunderbare Zeit mit Paul. Das war ein Wechsel. Einer, der hat sich nur gut angefühlt hat. Wie ganz am Anfang. Sicher nicht mehr blutjung und ohne Kinderwunsch. Aber sie war mit dem Mann zusammen, den sie liebte und der sie auch liebte. Bei dem letzten Gedanken verengt sich Tomkes Hals, und Tränen kribbeln. Und nun schon wieder ein Wechsel. Der Fall von Wolke sieben auf den Boden der Tatsachen. Auf dem hat sie sich doch immer wohlgefühlt. Verdammt, warum fällt es ihr jetzt so schwer, die Realität anzunehmen? Weil sie weiß, wie sich fliegen anfühlt. Paul weiß es auch. Trotzdem hat er sich für eine Landung entschieden. Abmarsch zurück in sein Gefängnis. Das für ihn gar keins ist. Wahrscheinlich fühlt er sich darin geborgen und sauwohl.
Tomke gießt das kochende Wasser über die Teeblätter. Die Suppe stellt sie beiseite. Ihr ist der Appetit vergangen. Hoffentlich ist die Maus endlich im Käfig, schießt es ihr durch den Kopf. Tomke greift nach ihrem Schlüsselbund und geht rüber zur Garage. Die Falle ist noch immer leer. Tomke öffnet die Wagentüren und klopft auf alle Sitze. Nichts.
»Dir ist nicht zu helfen, echt!«, knurrt sie ärgerlich. Sie wird Torben fragen müssen, wo sich eine Maus im Innenraum eines Autos verstecken kann. Auf Verwesungsgeruch ist sie nicht scharf.
Als sie über die Einfahrt zurück ins Haus will, kommt wieder der Mann mit Hund vorbei. Ohne Grund grüßt Tomke ihn. »Moin!«
Er zuckt so heftig zusammen, dass sie sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte. Sein Blick sucht und findet sie. Über sein Gesicht huscht ein freundliches Lächeln. »Guten Tag!«
Tomke lächelt. Es gefällt ihr, dass er nicht automatisch auch Moin gesagt hat.
Wieder in der Küche, trinkt sie nachdenklich ihren Tee. Was soll sie mit dem restlichen Tag anfangen? Ein Überangebot an Zeit ist sie nicht mehr gewohnt. Ihre Tage waren bislang eher zu kurz. Alles war straff durchorganisiert. Ja, organisiert. Aber nicht nach ihrem eigenen Rhythmus, gesteht sie sich widerstrebend ein. Sonst hätte sie jetzt kein Freizeitloch. Sie hat sich nach Pauls Terminen gerichtet. Ausschließlich nach seinen. Halt! Stopp! Bloß nicht schon wieder Trübsal blasen, Tomke Heinrich. Reiß dich zusammen! Musik. Genau, sie braucht Musik und Bewegung. Außerdem muss sie dringend etwas für ihre Rückenmuskulatur tun. Sie dreht sich um und rauscht in ihr Schlafzimmer. Sie wühlt ungeduldig den Schrankinhalt durch. Nein, keine Trainingsklamotten. Sie zieht ihr richtiges Bauchtanzkostüm an. Es ist giftgrün und über dem Bauch geschlossen. Der elastische Stoff schmiegt sich wie eine Schlangenhaut um ihren Körper. Erst in Kniehöhe wird er transparent und glockig. Um die Hüften schlingt sich Tomke einen breiten Gürtel. Er ist über und über mit glänzenden Metallmünzen bestickt. Sie klimpern bei der kleinsten Bewegung von ihr. Welche Musik soll sie auflegen? Tomke wählt ein Lied von Om Kolthom. Die Sängerin besingt eine große verlorene Liebe. So schmachtend und herzzerreißend, dass man ohne ein Wort zu verstehen ihr Leid mitfühlen kann. Tomke hat die einstudierte Choreographie für das Stück vergessen. Sie war zu lange nicht beim Training. Egal. Sie tanzt nach Gefühl. Das tut gut. Zum Ende positioniert sie sich vor den Flurspiegel. Die letzte Pose ist die wichtigste, hat ihre Lehrerin ihnen eingebleut. Wenn in der Mitte mal gepatzt wird, nicht schön. Aber nicht so
Weitere Kostenlose Bücher