Die Pension am Deich: Frauenroman
versucht Haltung zu bewahren. Dabei ist sie schlichtweg entgeistert. Wie grausam! Unvorstellbar. Gibt es etwa diese unvergängliche, ganz große, einzigartige Liebe? Und wenn ja, hieß dann ihre womöglich Paul? Nein, niemals. So eine starke Leidenschaft überlebt nur in ihren geliebten Schmachtschinken. Im Leben kann man dagegen ankämpfen. Man ist Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert. Sie wird jedenfalls keine vierzehn Jahre auf Paul warten. Dann wäre sie fast – sechsundsechzig. Die Vorstellung lässt sie frösteln. Sie reibt sich wärmend mit den Händen über die Arme und schüttelt nachdrücklich den Kopf. Nicht mit ihr!
Ein verhaltenes Schluchzen. Tomke sieht erschrocken hoch. Nein, Anne weint zum Glück nicht. Sie sitzt ihr still wartend gegenüber. Das mühsam unterdrückte Wimmern kommt von draußen. Ganz in ihrer Nähe. Tomke steht auf und presst ihr Gesicht gegen die auf kipp gestellte Fensterscheibe. Frau Habermann. Sie sitzt auf der Stufe vor der Haustür und weint wie ein kleines Mädchen.
»Das ist Frau Habermann«, murmelt Tomke kopfschüttelnd und setzt sich wieder an den Küchentisch zurück.
»Meine Güte, was ist denn da passiert?«, fragt Anne bestürzt. Tomke zuckt ratlos mit den Schultern und schenkt noch einmal die Gläser voll.
»Aber so heftig weint man doch nicht einfach so.« Anne steht besorgt auf.
»Manche Menschen schon. Die braucht man nur anzuticken, und sie können wahre Sturzbäche hervorbringen«, versucht Tomke sie zu beruhigen.
»Ich weiß nicht. Wir sollten nachfragen, ob sie Hilfe braucht.«
»Das ist ihr vielleicht gar nicht recht.« Tomke gibt sich Mühe, dass ihre Bedenken glaubhaft klingen. Die Wahrheit ist, sie hat absolut keine Lust, sich mit den Problemen einer Frau Supergattin zu beschäftigen. Wahrscheinlich hat ihr Kerl nur den Kennenlerntag vergessen. Für solche Art von Beziehungsproblemen hat sie keine Nerven. Da gehen ihr die Einblicke in Linda Lorettas Leben mehr unter die Haut. Sie würde gerne mit ihr allein bleiben. Die da draußen wird sich bald wieder beruhigen.
Leider sieht das Anne anders. »Also, ich gehe nachfragen«, verkündet sie entschlossen. Sie wirft Tomke einen auffordernden Blick zu. Die hebt ergeben ihre Arme und stöhnt: »In Gottes Namen. Gehen wir nachschauen.«
Kapitel 16
Monika, Tomke und Anne kommen sich näher
Monikas erster Gedanke: Auf das Zimmer stürmen und über den arglos schlafenden Frank einen Eimer Wasser schütten. Seine Fassungslosigkeit genießen, wenn er frierend und geschockt vor ihr auf dem Bett liegt. Ihn einfach so zurücklassen. Geschockt, nass und frierend. Ohne ein Wort der Erklärung. Nur ihre Sachen packen und abreisen.
Sie rennt den Weg bis zur Pension. Mittlerweile schießen ihr weit rabiatere Szenarien als eine kalte Dusche durch den Kopf. Mit fliegenden Händen schließt sie die Tür auf und stürmt die Treppe hoch. Auf halbem Weg bleibt sie ruckartig stehen. Halt! So geht das nicht. Erst einmal muss sie zur Besinnung kommen. Die verschiedenen Vergeltungsfantasien sind federleicht und vielfältig dahergekommen. Jetzt, kurz davor, sich für eine von ihnen zu entscheiden, ist alles Denken in ihr blockiert. Sie muss sich zur Ruhe zwingen. Warten, bis ihre Wut ein wenig abgekühlt ist. Was käme dabei heraus, dermaßen zornig in das Zimmer zu stürmen und Frank wüst zu beschimpfen? Nicht mehr als heiße Luft. Als ginge es um einen unbedeutenden Beziehungszwist. So, als hätte er vergessen, die Wäsche aufzuhängen oder das Duschbecken trockenzuwischen. Frank würde durch ihre blindlings hervorgebrachten Vorwürfe nicht kapieren, dass sein fehlendes Vertrauen und der hinterrücks eingesetzte Beschatter ihrer Ehe den Boden weggerissen haben. Vor allem den unerschütterlichen Glauben: Ihre Verbindung ist unanfechtbar. Sie ist nicht auswechselbar. Die Begegnung mit Erik hat all ihre Werte durcheinander gewirbelt. Zweifel gesät. Zweifel, die tief in ihr überleben werden. Unabhängig davon, wie die Geschichte mit Erik ausgegangen ist. Völlig unwichtig, das wird Monika schlagartig klar. Tatsache ist und bleibt, sie konnte sich vorstellen, mit einem anderen Mann zusammen zu sein. Was heißt vorstellen? Sie hat es sich sehnlichst gewünscht. Mit allen Fasern ihres Herzens und vor allem ihres Körpers. Wie soll sie Frank das erklären? Die Gefahr, dass er die Schuldfrage kippt, ist viel zu groß. Sie würde sich in ihrer Erregung haltlos verhaspeln. Zum Schluss bliebe nur eine einzige Tatsache im
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