Die Pfade des Wanderers
wa?« Und er wollte den geschmolzenen Kelch an die Lippen führen.
Jon-Tom riß ihm das Gefäß hastig aus der Hand. »Vorsicht! Silberjod ist ein kräftiges Gift, Mudge, oder war es Silberchlorid? Egal.« Er schnüffelte selbst daran und blickte überrascht drein. »Weinbrand ist es jedenfalls nicht. Das ist Bourbon.«
Der Otter beugte sich vor und sah plötzlich ebenso verwirrt aus. »Merkwürdig, Kumpel. Diesmal is es Schokoladenlikör.«
Und wieder Jon-Tom: »Maische - oder Wodka. Was ist hier eigentlich los?«
Clodsahamp versuchte gerade, seine Brille in dem Regenguß trockenzuhalten, der auf sie herabschüttete. »Es ist keins von alledem, mein Junge. Diese besondere Zutat, über die ihr da redet und die zu bestimmen ihr solche Schwierigkeiten habt, ist etwas viel Einfacheres, ganz zu schweigen davon, daß es auch viel teurer ist. Ich hätte das Mittel niemals so verschwenderisch gebraucht, wäre die Lage nicht so ernst gewesen. Es ist sehr selten, schwer zu beschaffen und viel gefragt, und zwar nicht nur von uns, die wir uns mit den Hexenkünsten befassen. Wir nennen es Lesuf.« Er sah wieder zum Himmel empor und musterte den Sturm mit kritischem Blick.
Es regnete beständig. Der Sturm hatte sich verbraucht, und nun war da nur noch das regelmäßige Prasseln des Regens auf dem Boden. Es wehte kein Wind, und die dicken Tropfen fielen senkrecht herab. »Nie davon gehört«, gestand Jon-Tom. »Die Essenz von Fusel. Ich war zu der Überzeugung gelangt, daß wir diese Wolke nicht nur scheren, sondern sie durch einen Schock in die Realität zurück bringen mußten. Außerdem brauchte ich etwas, das sich leicht mit Wasser vermischen ließ.«
Mudge stand mit zurückgelegtem Kopf da, den Mund weit aufgesperrt, schluckend und schmatzend. »Na, jedenfalls besser als 'ne Zanknudel mit Migräne! Sauf nur, Kumpel, sauf nur! So 'n Sturm kriegen wir bestimmt nie wieder.« Auch Sorbl genoß den alkoholischen Regen, tat es bereits seit dem Fallen der ersten Tropfen. Das erklärte auch das ungewöhnliche Schweigen des Eulerichs, überlegte Jon-Tom. Der Famulus schwebte friedlich in irgendeinem Säuferhimmel.
Vorsichtig öffnete Jon-Tom ebenfalls die Lippen und saugte die Flüssigkeit ein, die ihm von der Nase rann. Creme de Menthe. Ein zweiter Schlürfer bescherte ihm den Geschmack von Galliano, ein dritter von Midori oder etwas ähnlichem.
Genug, sagte er sich entschieden. Er war weder durstig, noch hatte er das Bedürfnis nach Bewußtlosigkeit. »Oasafin«, plapperte Mudge. »Terraquin, Coosage, Goinal, Essark, Gutzaub, Sankerbeerenwein!« Der Otter lag rücklings im Schlamm, die Arme und Beine weit von sich gespreizt, doch nicht so weit, wie er den Mund aufgesperrt hatte.
Und er war nicht der einzige, denn die ungewöhnlichen Eigenschaften des Regengusses, den Clodsahamp hervorgerufen hatte, war unter den anderen Einwohnern von Ospenspri nicht unbemerkt geblieben. Sie kamen aus ihren Lehm- und Flechtwerkhütten getaumelt, zunächst in Paaren und zu dreien, dann in ganzen Scharen, die entzückt und glücklich herbei stürmten.
Sogar jene Einwohner, die sich für Antialkoholiker hielten, nahmen daran teil, denn eine solche wunderbar? Leistung hexerischer Kunst konnten sie schließlich nicht einfach übergehen und ihren weniger zaghaften Nachbarn überlassen, damit diese ihnen dann hinterher, wenn alles vorüber war, davon erzählten.
Während der aromatische Regen weiterhin fiel, zeigte er auch Wirkung auf die ausgetrockneten Bäume und verschrumpelten Pflanzen. Aus scheinbar toten Stengeln blühten plötzlich Blumen hervor. Sträucher ließen frischgrünes neues Blattwerk sprießen. Oben in den verwüsteten Obsthainen richteten die Apfel- und Toklabäume sich wieder auf; ihre Äste hoben sich, und grün platzte es aus ihnen heraus. Zwar brachten sie keine Früchte hervor, denn dafür war die Jahreszeit schon zu weit fortgeschritten, doch die Ernte im nächsten Jahr würde dafür mit Sicherheit geradezu üppig werden.
Seine wundervollste Verwandlung bewirkte der Regen draußen auf den Feldern des späten Herbstweizens. Die plattgedrückten verbrannten Ähren richteten sich wieder gen Himmel, und ihre ausgetrockneten Spitzen schwollen von goldenen Körnern an. Golden war auch ihre Verheißung: Denn noch Monate später war das Brot, das aus dieser Ernte hervorgekommen war, in den ganzen Glockenwäldern und darüber hinaus berühmt. Dies galt sowohl für das Brot als auch für die Brötchen, die wegen ihrer
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