Die Pfeiler der Macht
lag allein bei ihm selbst. Wenn es einen Rest von Anstand in meiner Familie gäbe, dachte er, dann müßte sie mir in einer solchen Krise beistehen. Bisher hatte er jedoch nie auf deren Unterstützung zählen können.
Nachdem Nora sich einigermaßen von ihrem Schrecken erholt hatte, zeigte sie sich merkwürdig verständnislos. Sie begriff einfach nicht, was die Teilhaberschaft Hugh bedeutete. Nicht ohne eine gewisse Enttäuschung nahm er zur Kenntnis, daß Nora sich nur schlecht in andere Menschen und deren Gefühle hineinversetzen konnte. Er führte es auf ihre Herkunft zurück: Sie war in armen Verhältnissen ohne Mutter aufgewachsen und von Anfang an gezwungen gewesen, zuallererst an sich selbst zu denken. Obwohl ihn ihre Haltung ein wenig erschütterte, war Abend für Abend, wenn sie im Nachtgewand gemeinsam in ihr großes, weiches Ehebett stiegen und sich liebten, alles vergeben und vergessen.
Der Zorn über seine Degradierung nagte an Hugh wie ein Geschwür. Aber da er nun für eine Frau, ein Haus und sechs Bedienstete aufkommen mußte, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als weiterhin in der Bank zu arbeiten. Im Stockwerk über dem Direktionszimmer hatte man ihm ein eigenes Büro zugewiesen, an dessen Wand inzwischen eine große Amerikakarte hing. Jeden Montagmorgen schrieb er eine genaue Zusammenfassung aller auf Nordamerika bezogenen Geschäftsvorgänge der vergangenen Woche und kabelte sie an Sidney Madler in New York. Am zweiten Montag nach dem Maskenball der Herzogin von Tenbigh begegnete er im Telegraphenbüro im Erdgeschoß einem ihm unbekannten dunkelhaarigen Mann, der knapp über zwanzig Jahre alt sein mochte. Hugh lächelte ihm freundlich zu und fragte: »Hallo, wer sind denn Sie?«
»Mein Name ist Simon Oliver«, sagte der Mann mit kaum wahrnehmbarem spanischem Akzent.
»Sie können noch nicht lange im Hause sein«, sagte Hugh und streckte die Hand aus. »Ich bin Hugh Pilaster.«
»Sehr erfreut!« erwiderte Oliver steif und beinahe ein wenig mürrisch.
»Ich betreue das Kreditgeschäft mit Nordamerika«, sagte Hugh.
»Was ist Ihre Aufgabe?«
»Ich bin im Büro von Mr. Edward angestellt.« Hugh zog einen naheliegenden Schluß: »Sie stammen aus Südamerika?«
»Ja, aus Cordoba.«
Das ergab durchaus Sinn: Edward hatte sich auf Südamerika im allgemeinen und Cordoba im besonderen spezialisiert. Da konnte es durchaus von Nutzen sein, einen Bürger dieses Landes zur Seite zu haben, schon allein deshalb, weil Edward kein Spanisch konnte.
»Micky Miranda, der Gesandte Cordobas, ist ein ehemaliger Schulkamerad von mir«, sagte Hugh. »Sie müßten ihn eigentlich kennen.«
»Er ist mein Vetter.«
»Ach ja!« Ähnlich sahen die beiden einander nicht. Aber Oliver bot eine tadellos gepflegte Erscheinung; er trug einen gutsitzenden, perfekt gebügelten Maßanzug ohne jedes Stäubchen, das Haar war geölt und gekämmt, die Schuhe glänzten. Allem Anschein nach nahm sich Oliver den erfolgreichen älteren Vetter zum Vorbild.
»Nun gut, ich hoffe, die Arbeit bei uns gefällt Ihnen«, sagte Hugh.
»Danke.«
Auf dem Weg zurück in sein Büro dachte Hugh über die Begegnung nach. Edward brauchte unbedingt Hilfe, soviel stand fest. Aber mußte es ausgerechnet ein Vetter Micky Mirandas sein, der einen potentiell einflußreichen Posten in der Bank übernahm? Sein Unbehagen fand bereits wenige Tage später Bestätigung. Einmal mehr war es Jonas Mulberry, der ihm mitteilte, was sich im Direktionszimmer zugetragen hatte. Unter dem Vorwand, ihm eine Übersicht über die Zahlungen bringen zu wollen, die die Bank in London an die Regierung der Vereinigten Staaten zu leisten hatte, betrat der Prokurist Hughs Büro. In Wirklichkeit wollte er mit ihm über etwas ganz anderes sprechen. Sein Spanielgesicht war länger denn je. »Es gefällt mir nicht, Mr. Hugh«, sagte er.
»Südamerikanische Anleihen waren noch nie sehr erfolgreich.«
»Wir legen doch nicht etwa eine südamerikanische Anleihe auf, oder?«
Mulberry nickte. »Doch. Mr. Edward hat es vorgeschlagen, und die anderen Teilhaber haben zugestimmt.«
»Was soll damit finanziert werden?«
»Eine neue Eisenbahn in Cordoba. Sie soll die Hauptstadt Palma mit der Provinz Santamaria verbinden.«
»Wo Papa Miranda Gouverneur ist ...«
»Der Vater von Senor Miranda, Mr. Edwards Freund ...«
»Und Onkel von Edwards Sekretär Simon Oliver ...« Mulberry schüttelte mißbilligend den Kopf. »Damals, vor fünfzehn Jahren, als die venezuelanische Regierung ihren
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