Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
erreicht? Niemand konnte es erahnen. Nur eines wussten alle: Vor ihnen lag Antiochia, das noch stärker befestigt sein sollte als Nikäa, mindestens aber genauso uneinnehmbar war. Würden sie die Stadt belagern, müsste sie die Schwangerschaft draußen verbringen, im Zelt. Es hieß jedoch, dass es in dieser Gegend den ganzen Winter über regnen würde. Vom Regen hatte Alice mehr als genug. Von ihrem breiten Pilgerhut strömte der Regen und durch ihren Pilgermantel drang die Nässe bis auf die Haut. Alice’ Schuhe waren trotz der Trippen durchweicht, ihre Füße eisig und ihre Hände konnte sie vor Kälte kaum noch bewegen. Würden sie und das Kind die Schwangerschaft und die Geburt überleben?
Und wenn ja, was dann?
Selbst wenn Bernhard bei der Belagerung von Antiochia, bei der Eroberung von Jerusalem nicht den Tod fand, was wäre dann? Könnte sie sich tatsächlich vorstellen, dass Bernhard, sein Vater Graf Otto, der noch niemals ein Wort an sie gerichtet hatte, zusammen mit ihr, Alice, und dem Kind, hoffentlich dem Sohn, zurück ins diutsche landt zögen, um auf Bernhards Burg zu leben?
Undenkbar. Denn dort erwartete sie Bernhards Mutter, die Gräfin. Die aber wäre alles andere als erfreut, wenn Bernhard mit einem Bastard und mit einer Geliebten auf ihrer Burg auftauchte.
Der Bastard, das Kind, ginge ja noch an, einen Enkel würde die Gräfin dulden, nicht aber eine verarmte Kaufmannstochter. Alice schwindelte bei der Vorstellung, sie stolperte, jemand hielt sie von hinten fest und zischte:
»Pass doch auf!«
Nein, fortjagen würde Bernhards Mutter sie – genauso fortjagen, wie die Mutter des großen Kirchenlehrers Augustinus dessen Konkubine fortgetrieben hatte. Wie hatte diese junge Frau Alice immer leid getan. Es war schon sonderbar, dass der Kanoniker, bei dem sie und Martin Latein lernten, mit ihnen dieses merkwürdige Buch ›Confessiones ‹ las – und dann noch die Stelle, wo Augustinus schrieb, man habe die Frau, mit der er sein Lager teilte, gewaltsam von ihm getrennt. Was waren das für verlogene Worte. ›Man‹, das war niemand anderes als seine eigene Mutter! Er hatte es geschehen lassen, ein erwachsener Mann, ein Lehrer der Rhetorik, fand keine Worte, um seine Mutter von ihrem bösen Tun abzubringen.
Aber, das war das Entsetzliche, wäre Bernhard besser?
War Alice für ihn ebenfalls nichts anderes als ›die Gefährtin, mit der ich sonst mein Lager teilte‹, wie sich Augustinus ausdrückte? Wäre sie für ihn nicht genauso bedeutungslos, ein Niemand, wie jene Frau vor 700 Jahren, mit der Augustinus 15 Jahre zusammenlebte, mit der er einen natürlichen Sohn gehabt hatte und die er nicht ein einziges Mal namentlich erwähnte?
Würde Bernhard um Alice kämpfen?
Das war das Furchtbare daran, er würde es nicht, er würde seiner Mutter gehorchen, er würde es genauso wie Augustinus mit sich geschehen lassen, dass seine Mutter Alice vertrieb und für ihn eine adelige Verlobte aussuchte, die er dann bereitwillig heiraten würde. Vielleicht wäre diese Braut wegen ihres zarten Alters von neun oder zehn Jahren auch noch nicht heiratsfähig und Bernhard würde sich eben in der Zwischenzeit bis zur Hochzeit eine neue Geliebte für seine Bedürfnisse suchen.
Au, das tat weh. Alice hatte den Felsen nicht gesehen, unter dem sie sich hätte bücken müssen. Sie rieb sich die Stirn, um den Schmerz zu verteilen.
Die Konkubine Augustinus’, diese verstoßene, gedemütigte Frau, hatte von Mailand nach Afrika zurückkehren müssen ohne ihr Kind. Wovon lebte sie da? War sie in Armut zugrunde gegangen? Ihr Sohn aber blieb bei seinem Vater und bei dessen entsetzlicher, grausamer, herzloser Mutter, die doch von allen fast wie eine Heilige verehrt wurde, weil sie aus Augustinus einen Christen machen wollte. Das Kind der Konkubine aber war schon drei Jahre später tot.
Ihr Kind würde auch sterben, dachte Alice und fühlte sich todtraurig und schämte sich noch dazu. Denn es war nicht nur Bernhards fromme, herrschsüchtige Mutter, vor der sie Furcht hatte, sondern sie selbst war es. Alice war über ihre eigenen Fantasien entsetzt, die sie ausgelebt hatte, als das Kind gezeugt wurde. Nicht Bernhard traf die Schuld, wenn es dem Kind schlecht ginge und Gott es strafte, sondern sie selbst. Wie schämte Alice sich dafür, dass sie gewünscht hatte, Bernhard möge Ulrich im Zweikampf töten, damit ihr Sohn einmal später auch mit dessen Grafschaft belehnt würde. Wie konnte sie nur sich Bernhard ganz hingeben,
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