Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
Steinblöcke gegen die Mauern der Burg schleudern zu können und die Belagerten in Furcht und Schrecken zu versetzen. Dass sie die Mauern tatsächlich zertrümmern könnten, daran musste allerdings gezweifelt werden.
Die nächsten Tage verliefen demnach ziemlich ruhig. Zelte wurden aufgestellt, Vorräte verstaut, Latrinen gegraben, Suchtrupps ausgesandt nach verlässlichen Trinkwasserquellen. Arbeitstrupps mussten sich weit von dem Feldlager entfernen, um geeignetes Holz für die Belagerungsmaschinen zu finden, die Bäume zu fällen und zu verarbeiten und zum Lager zu schaffen. Hunderte von Männern waren damit beschäftigt, Verteidigungswälle zu errichten, zwar gedeckt durch die eigenen Bogenschützen, aber dennoch ständig unter Beschuss von Pfeilen und vor allem Steinen, die die Feinde auf das nördlich gelegene Lager des Grafen Raimond abschossen, Steinen, die nichts kosteten, von denen es unzählig viele gab, die böse Verletzungen verursachten, die oft tödlich waren.
Ende Februar wachte Martin tief in der Nacht von einem Rascheln der Zeltwand auf. Er hörte, wie Anselm leise ins Zelt schlich, seinen Helm und sein Schwert abnahm und sich auf sein Lager legte.
Er ist bei einer Frau gewesen, dachte Martin. Bei einer jener Frauen, die dem Heer nun schon durch halb Europa und durch Romanien unermüdlich gefolgt waren. Trotz aller Ermahnungen zur Enthaltsamkeit wusste auch der Klerus, überlegte Martin, dass die Kampffähigkeit der Männer über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren ohne diese Dienste sinken würde. Wahrscheinlich erhofften auch sie sich in Jerusalem Vergebung ihrer Sünden.
Aber Anselm in einem jener Zelte? Warum nicht? Er hatte ja auch mit der Frau des Bauern …
»Wie ich höre, seid Ihr wach«, unterbrach Anselm Martins Gedankengang. »Ich komme von der Beichte.«
Wegen welchen Vergehens denn? Was gäbe es schon so Neues in der Nacht zu beichten?, überlegte Martin und merkte, dass er sich seiner vorherigen Gedanken schämte.
»Seit wir Akkâr belagern«, setzte Anselm vorsichtig an, »versuche ich mir vorzustellen, was danach kommt. Mit aller Kraft denke ich an Tripolis, Bethlehem, Jerusalem. Ich gebe mir Mühe, die Städte zu sehen. Jerusalem, nicht, wie wir es von den Karten kennen, als Mittelpunkt der Welt, sondern wie es wirklich aussieht, von Mauern umgeben, die wir belagern und erobern müssen. Ich kann mich nicht darin sehen. Jedes Gefühl, jeder Gedanke, jede Vorstellung bricht mit Akkâr ab.«
Anselm schwieg und Martin spürte, wie der Tod ihnen ganz nahe war.
Um die Stille zu durchbrechen, sagte er:
»Auch ich kenne dieses Gefühl oder so ein ähnliches. Es gibt den Riss, mein Leben vor der Ermordung meiner Frau und die Zeit danach. Ich kann ihren Tod nicht begreifen.
So viele eigentlich unwichtige Momente führten zu ihrer Ermordung und ich denke immer wieder, wenn etwas aus dieser Kette gefehlt oder anders gekommen wäre, so lebte Theresa noch. Wenn bei Alice, der Freundin meiner Frau, die Wehen etwas früher eingesetzt hätten, ich mich nicht mit dem Geistlichen verabredet, wenn ich ihm abgesagt und nicht meine Frau gebeten hätte. Wenn ich nicht für Bischof Adhémar eine kleine Arbeit hätte verrichten sollen …Tatsächlich hat Bischof Adhémar nur wenig von meiner Zeit an jenem Nachmittag in Anspruch genommen. Als ich aus seinem Zelt kam, wollte ich sofort in den Garten zu meiner Frau, aber ich wurde aufgehalten, hatte ein Gefühl, mich zu verreden, ich kam einfach nicht von der Stelle. Es war wie im Traum, wenn man fortlaufen will und nicht kann. Immer wieder erscheint es mir so: Es ist so, als hätten sich zwei Pole zielstrebig aufeinanderzubewegt, hier Theresa, dort die Türken, die sich wie an einer Schnur gezogen ausgerechnet an diesem Tag aus Antiochia hinausgeschlichen haben. Und ich bin der Drahtzieher ihrer Not und ihres Todes.«
»Das seid Ihr sicher nicht. Wenngleich ich Euch verstehen kann.« Anselm schluckte. »Auch deswegen war ich eben bei der Beichte. Es ist lange her, viele Jahre, aber es bleibt die Schuld. Beatrix ist bei der Geburt unseres Sohnes gestorben. Dass Frauen bei der Geburt sterben, ist natürlich, gehört zum Los der Frau dazu. Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären, heißt es in der Bibel. Zu den Schmerzen gehört das Sterben. Der Mann stirbt im Kampf, die Frau bei der Geburt.
Dennoch. Schon die Geburt unserer Tochter Agnes war eine Qual, einen ganzen Tag lang hat sie gedauert, die Schreie meiner Frau drangen zu mir in das
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