Die Poison Diaries
aus wie ein wilder Geselle. Unterwegs habe ich mich verwandelt. Ich stahl Geld und Kleidung und ließ mir von einem Barbier das verfilzte Haar und den Bart stutzen.
Später habe ich mich einer fahrenden Gauklertruppe angeschlossen, wo ich einfache Tricks vorführte, um die Menge zu amüsieren, während die Quacksalber ihre Wässerchen und Cremes anpriesen. Was für einen Anblick ich geboten habe! Selbst Jessamine hätte mich nicht erkannt, gekleidet in einen Samtanzug mit einem weißen Rüschenhemd und Pomade im Haar. Meine Spezialität war es, eine Rose auf Befehl erblühen zu lassen. Danach verbeugte ich mich tief und reichte die Blume jener goldgelockten jungen Frau in der Zuschauermenge, die meiner verlorenen Liebe am ähnlichsten sah.
Nach jeder Vorstellung erhielt ich Briefe, geschrieben auf mit Monogrammen versehenen, dicken Briefbögen und getränkt mit französischem Parfüm, geschickt von Frauen, die mich kennenlernen wollten, die nach einer Liebesnacht mit mir verlangten oder mich sogar zu heiraten wünschten. Es war meine eigene Schuld, weil ich mich derart zur Schau stellte, aber ich hatte keine Wahl. So wie das Geißblatt die Bienen mit seinen strahlenden Farben und dem intensiven, süßen Duft anlockt, so brauchte ich eine starke Attraktion, um ein zahlendes Publikum anzulocken. Dass ich all die Angebote meiner weiblichen Verehrer abwies, schien mich nur noch verführerischer zu machen.
Nachts, wenn die Vorstellung vorbei war, las ich immer wieder in dem einzigen Buch, das ich besaß: Thomas Luxtons Gifttagebuch. Ich kann nicht besonders gut lesen, denn ich habe nur eine sehr unzureichende Bildung genossen. Aber ich arbeitete mich durch, Seite für Seite, geschrieben in der schmalen, ordentlichen Schrift dieses verabscheuungswürdigen Menschen.
Das Tagebuch enthält Giftrezepte für jede Gelegenheit. Einige wirken sofort und töten so schnell wie ein Keulenschlag. Andere sind dazu da, das Ende qualvoll lange hinauszuzögern und es wie das Resultat einer Krankheit aussehen zu lassen, die den Unglücklichen seit Wochen oder Monaten heimgesucht hat. Einige Gifte töten nicht einmal, sondern führen nur zu unheilbarem Wahnsinn. Einige haben die Macht, einen Menschen vollständig zu lähmen, ihn aber bei Bewusstsein zu lassen, als Gefangenen in seinem eigenen Körper.
Was für einen Nutzen konnte ein einzelner Mann aus so vielen Anwendungen von Gift ziehen? Luxtons Methoden werden minutiös erläutert, nicht aber ihr Zweck. Wieder und wieder beklagt er seine Verzweiflung, weil er Wissen aufspüren muss, das vor langer Zeit verlorenging. Es gibt ganze Listen von Orten, wo er gefährliche Erkenntnisse verborgen glaubt, und die Namen von Giftmördern längst vergangener Tage, deren Geheimnisse er zu entschlüsseln wünscht.
Gegen Ende des Tagebuchs spricht er über eine geplante Reise zu einem Ort, an dem sich angeblich der größte und umfangreichste Apothekergarten der Welt befindet. Es gibt keinen Ort auf Erden, schreibt er, wo das uralte Wissen über die Macht der Pflanzen besser bewahrt wird als im
Orto botanico di Padova
– im botanischen Garten der Universität Padua in Italien.
Und das ist nun mein Ziel. Denn nirgends auf all meinen Reisen habe ich eine Spur von Jessamine gefunden. Ich habe das Grünzeug in den Hecken und auf den Feldern Englands gefragt, ob irgendeins davon meine Geliebte gesehen hat, und sie alle haben verneint. Wenn ich sie fragte, ob sie Oleanders Gefangene ist und welches entsetzliche Schicksal sie erwartet, dann schwiegen sie.
Sie haben Angst, mir zu sagen, was sie wissen, was mich zu der Überzeugung gelangen ließ, dass Jessamine in Gefahr schwebt. Aber ein Garten, der so alt und weise ist wie der
Orto botanico
wird gewiss keine Angst haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Giftprinz dort etwas zu sagen hat.
Während ich mit den Gauklern und Quacksalbern unterwegs war, habe ich genug verdient, um die Überfahrt nach Italien bezahlen zu können. Und bald schon – sehr bald, wie ich hoffe – werden mir die edlen Heilpflanzen Paduas helfen, meine Jessamine zu finden.
Wenn sie mir nicht helfen, dann weiß ich nicht mehr weiter. Jessamine, meine zarte, sanftmütige Liebste, die mich das Mitgefühl mit den Menschen gelehrt hat! Sie ist geflohen, so viel ist sicher, aber wohin? Was hat sie dazu gebracht, einen Mord zu begehen – nicht einen, sondern gleich zwei! Wenn sie Oleander verfallen ist, dann ist er hundertmal mehr mein Feind, als er es ohnehin schon
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