Die Poison Diaries
»Nein, Ma’am.«
Misstrauisch betrachtet sie mich. »Wirklich nicht? Die Medizinstudenten sind die Schlimmsten. Erst betrinken sie sich. Dann warten sie, bis es dunkel ist und stehlen Leichen aus ihren Särgen, für den Anatomie-Unterricht. Danach betrinken sie sich erneut, wofür man ihnen keinen wirklichen Vorwurf machen kann. Im Morgengrauen kommen sie her und stecken die Köpfe in meinen Springbrunnen, um wieder nüchtern zu werden. Jeden Morgen finde ich sie am Wegesrand liegen, wie Unkraut.«
Ich muss lächeln.
»Finden Sie das amüsant? Das ist es ganz gewiss nicht.«
»Sie sagten, die Studenten lägen am Wegesrand wie Unkraut. Das ist mein Name: Weed – Unkraut. Ich weiß, das ist ungewöhnlich.« Ich sehe, dass sie böse auf mich ist, aber ich mag sie, obwohl ich nicht weiß, warum. »Ich schwöre, dass ich weder betrunken noch ein Grabräuber bin.«
»Sie heißen Weed?« Sie lacht, ein unbeschwertes, rollendes Lachen tief aus ihrem Bauch. »Das wäre ein fürchterlicher Name für einen Gärtner. Ich hoffe, Sie sind nicht hergekommen, weil Sie Arbeit suchen.«
»Ich bin hergekommen, weil ich lernen will«, sage ich. »Aber ich werde gern jede Arbeit erledigen, die Sie mir auftragen.«
Sie schüttelt den Kopf und wendet sich zum Gehen. »Nein, nein, nein. Ich habe keine Zeit, jeden hergelaufenen Möchtegern-Gärtner einzuarbeiten. Das Werk, das wir hier im
Orto botanico
vollbringen, lässt sich mit nichts vergleichen, was Sie vielleicht über Landwirtschaft wissen. Sie wollen lernen? Gut! Signora Baglioni wird Ihnen etwas beibringen.« Sie deutet nach oben. »Sonne.« Sie deutet auf den Springbrunnen. »Wasser.« Sie deutet nach unten. »Erde. Jetzt wissen Sie mehr als neun von zehn Gärtnern. Machen Sie eine Schule auf, wenn Sie wollen! Aber mich müssen Sie jetzt entschuldigen, ich habe nämlich zu tun.«
Sie geht davon und schwingt im Gehen ihren Spaten.
Baglioni
, drängt der Garten.
Baglioni!
Ich folge ihr. »Signora Baglioni, warten Sie! Ich bin nicht wie neun von zehn Gärtnern. Im Gegenteil, ich fürchte ich bin einzigartig. Bitte, ich möchte es Ihnen zeigen.«
Ich will sie mit meinem Trick beeindrucken und laufe voraus zu einem kleinen Rosenstrauch, der kurz vor seiner Herbstblüte steht. Während Signora Baglioni sich an mir vorbeischieben will, wölbe ich meine Hand um einen einzelnen Zweig, an dessen Ende sich eine kleine Knospe befindet. Mit halbgeschlossenen Augen murmele ich:
Ich bitte um Verzeihung.
Ja?
Würdest du mir die Ehre erweisen und für mich erblühen? Du würdest mir damit einen großen Gefallen tun.
Selbstverständlich.
Die Signora schaut zu, wie die Knospe wächst und anschwillt, bis sie aufbricht und sich zu einer herrlichen pinkfarbenen Blüte ausbreitet, in der die Blütenblätter dicht an dicht stehen wie bei einem winzigen Kohlkopf. Der Duft, den sie verströmt, ist so betörend wie ein ganzes Lavendelfeld.
Signora Baglioni keucht auf. Dann verengen sich ihre Augen. »Wie haben Sie das gemacht? War das irgendein Zaubertrick? Eine optische Täuschung? … Aber nein«, murmelt sie dann und begutachtet die neu erblühte Rose. »Ich weiß, dass diese Knospe hier war. Ich beobachte sie seit zwei Wochen, und es hätte eigentlich noch vier oder fünf Tage dauern sollen, bis sie erblüht …«
Sie rammt das Blatt des Spatens in den Boden und lehnt sich auf den Stiel. Dann fixiert sie mich mit einem Blick aus funkelnden Augen. »Also schön, Signor Weed. Sagen Sie mir, wie Sie das gemacht haben. Und ich warne Sie, ich habe keine Lust auf irgendwelche Spielchen.«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich werde Ihnen sagen, was ich weiß, wenn Sie mir beibringen, was Sie wissen.«
Sie macht den Mund auf, zweifellos, um mich für meine Unverblümtheit zurechtzuweisen. Aber was ich höre – und nur ich allein – ist die Antwort der Rose.
Nur für dich werde ich so erblühen, Master Weed. Vielleicht wirst du eines Tages auch für mich erblühen.
Ich muss mir ein Lächeln verkneifen, aber zu spät. Signora Baglioni hat es bereits gesehen. Ihr Blick wandert zwischen der Rose und mir hin und her.
»Also schön. Kommen Sie mit.« Ihre Stimme hat sich verändert. Sie ist nicht länger gereizt und ungeduldig, sondern beinahe eifrig und voller Neugier. »Begleiten Sie mich nach Hause. Wir werden guten Käse essen, etwas Brot und ein paar späte Tomaten aus meinem Garten. Sie werden mir erklären, was Sie hergeführt hat, und ich werde zuhören.« Sie wirft noch einmal
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