Die Probe (German Edition)
Enthusiasmus fort. Dass diese dynamische Gruppe ehrgeiziger Alphatiere sie überhaupt akzeptierte, hatte sie nicht allein ihrer Qualifikation zu verdanken, sondern hauptsächlich der Zustimmung des Mannes, der gerade die neusten Messergebnisse erläuterte. Helmut Weishaupt, den hier alle nur heimlich den Häuptling nannten, war so etwas wie die graue Eminenz im Institut für physikalische Chemie, und das, obwohl er keinen akademischen Titel trug. Seit fünfzehn Jahren arbeitete er als einfacher Laborant an der Universität. Mit seiner reichen Erfahrung, dem scharfen Verstand und der bescheidenen, selbstlosen Art, wie er sein Wissen weitergab, steckte er jede und jeden in die Tasche. Daran änderte auch nichts, dass ihm wirres Kraushaar und markante Tränensäcke unter den geröteten Augen ein Aussehen verliehen, als hätte er eben eine ausgedehnte Kneipentour hinter sich. Er schien jede noch so exotische chemische Verbindung zu kennen, und die Diagramme des Gaschromatographen brauchte er selten auszumessen, die Muster der Komponenten entzifferte er von bloßem Auge. Hatte man einmal seinen Lackmustest bestanden, war man endgültig aufgenommen im inneren Kreis des Instituts.
Die Ergebnisse sahen vielversprechend aus, wie sie gehofft hatte.
»Vielen Dank für die guten Nachrichten«, sagte sie zufrieden lächelnd, nachdem er geendet hatte. »Es sieht so aus, dass wir uns langsam, aber sicher, ans Optimum herantasten. Der Wirkungsgrad der Solarzellen lässt sich sicher noch etwas steigern, aber er nähert sich doch einem Grenzwert bei fünfundsechzig Prozent, wie ich aus diesen Charts ablese. Unser Ziel, sechzig Prozent zu überschreiten, haben wir bereits erreicht. Obwohl ich überzeugt bin, dass sich die Leistung der Zellen mit Strukturen höherer Ordnung, zum Beispiel Tetrapods, nochmals wesentlich steigern lässt, sollten wir das Erreichte erst mal verdauen.«
»Was meinst du damit, Ferien auf Institutskosten?«, rief eine der Doktorandinnen dazwischen, die für ihr loses Mundwerk gefürchtet war.
»So etwas Ähnliches, ja«, antwortete Lauren zur Verblüffung des Teams. »Es ist schön und gut, hier im Labor unter streng kontrollierten Bedingungen Spitzenresultate zu erzielen. Irgendwann müssen wir aber unter realen Bedingungen testen, das wisst ihr ebenso gut wie ich. Mein Vorschlag ist, jetzt damit zu beginnen.« Ein Außeneinsatz, weg vom Alltagstrott, diese Aussicht stachelte die Fantasie vor allem der jungen Kollegen augenblicklich an. Ein kurzes Brainstorming förderte sofort ein Dutzend Vorschläge zu Standorten für Testanlagen zutage. Alle Traumziele waren dabei, Griechenland, die Kanaren, Florida, die Seychellen, aber auch Nordafrika und Rügen fehlten nicht in der kreativen Liste.
»Tut mir leid, wenn ich eure Begeisterung dämpfen muss«, unterbrach der Häuptling das Palaver, »aber ich glaube, wir sollten uns auf die Europäische Union beschränken. Außerhalb der EU gibt es fast unüberwindbare administrative Hürden.« Er hatte recht. Lauren nickte ihm dankbar zu und umrahmte die fünf europäischen Destinationen an der Tafel mit rotem Filzstift.
»Mir scheinen alle Vorschläge durchführbar«, bemerkte sie dazu. »Aber ich möchte die Vorlaufzeit möglichst kurz halten. Ideal wäre es, wenn wir uns an ein bereits laufendes Projekt hängen könnten.«
»Portugal!«, rief einer der Chemiker. »Ich habe Kontakt zu den Kollegen in Amareleja bei Moura. Die bauen dort in der Hochebene des Alentejo die weltweit größte Fotovoltaikanlage, ideal für unseren Feldversuch.« Sie dankte dem jungen Mann insgeheim für den Werbespot, denn sie hatte diese Anlage von Anfang an im Auge gehabt. Die Gegend im trockenen Zentrum Portugals gehörte zu den Gebieten mit der längsten Sonnenscheindauer auf dem Kontinent. Die Sonnenzellen der Anlage von Amareleja Central erstreckten sich bereits über eine Fläche größer als der Londoner Hydepark, da würden ihre paar Versuchsaufbauten nicht weiter auffallen.
»Ich denke, das ist ein sehr vernünftiger Vorschlag. Wenn du einverstanden bist, möchte ich mit dir zusammen eine kleine Machbarkeitsstudie anfertigen, um den Projektantrag vorzubereiten.« Niemand hatte etwas dagegen, alle liebten kurze Entscheidungswege. »O. K., beim nächsten Mal wissen wir mehr. Danke, Leute.«
Auf dem Weg zurück in ihr Büro zog sie Renate beiseite. Sie wunderte sich, weshalb ihr Schützling es so eilig hatte, wieder zu verschwinden. »Du warst ziemlich still da drin«, bemerkte
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