Die Prophetin vom Rhein
nur?«
»Während sie auf mich einprügelten, haben sie geschrien, ich hätte ihnen die Arbeit gestohlen«, erwiderte Willem rasselnd. »Und damit auch das Brot für ihre Kinder. Bevor meine Mühle in Betrieb ging, haben Tag für Tag ihre Füße das geleistet, was nun meine Räder erledigen.«
»Hattest du mir nicht erzählt, dass sie bis über die Waden im Urinsud stampfen mussten, bis die Wolle fermentiert war?«
Er nickte.
»Wie kann man so eine Arbeit nur vermissen?«, rief Theresa. »Ich verstehe sie nicht!«
»Sie hassen mich dafür, weil es nun anders geworden ist. Viele Menschen mögen eben keine Veränderung. Alles soll immer so bleiben, wie es ist, sonst bekommen sie Angst.« Willem schwieg erschöpft.
Besorgt betrachtete sie ihn. Die Verletzungen würden wieder heilen. Sogar die Beule am Kopf schien schon etwas kleiner geworden zu sein. Doch was war mit seinen inneren Wunden? Gerade eben hatten sie unabhängig voneinander begonnen, Trier als neue Heimat anzunehmen.
War dieses kurze Glück womöglich schon wieder vorbei?
Der Gedanke daran arbeitete wie ein Mühlrad in ihrem Kopf weiter, als sie wenig später ins Judenviertel lief, weil Hanna sie um einen Besuch gebeten hatte. Die Zwillinge hatten sich prächtig entwickelt, zumal der kleine Ruben seine Geburtsschwäche überwunden hatte und inzwischen Judith an Gewicht sogar übertraf. Allerdings quälte ihn seit einigen Tagen ein heftiger Schnupfen, der bei jedem Niesen das ganze Körperchen wie im Krampf schüttelte.
»Hast du ihnen denn auch genügend Farnkraut in die Wiege gelegt?«, fragte Theresa als Erstes, weil sie von Meline wusste, dass diese Pflanze Neugeborene vor Krankheit und bösem Zauber schützte.
Hanna nickte. »Aber leider scheint es nur bei Judith gewirkt zu haben«, flüsterte sie. »Vielleicht, weil ich keine echte Jüdin bin und mein Sohn daher am achten Tag nach seiner Geburt eigentlich gar nicht hätte beschnitten werden dürfen.«
»Das weiß doch keiner außer mir!«, sagte Theresa. »Und meine Lippen sind versiegelt. Darauf kannst du dich verlassen.«
Inzwischen kannte sie die Einzelheiten von Hannas verzwickter Geschichte: die christliche Magd, die sich in ihren verwitweten jüdischen Dienstherrn verliebt hatte, obwohl sie eigentlich in seinem Haus gar nicht hätte arbeiten dürfen und es kaum fassen konnte, dass ihre Liebe von ihm erwidert wurde; die ständigen Heimlichkeiten, die beide halb um den Verstand gebracht hatten, weil sie ständig vor einer Entdeckung zitterten, bis sie schließlich den mutigen Entschluss fassten, Speyer zu verlassen und in Trier, wo niemand sie kannte, einen Neuanfang zu wagen.
»Jella, die Hebamme, scheint jemandem aus Speyer begegnet zu sein, der seinen Mund nicht halten konnte. Aus Ärger, dass du mich entbunden hast, hat sie dann zu reden begonnen. Wenn sie jetzt in der ganzen Gemeinde herumerzählt, dass ich …«
»Kopf hoch und lächeln!«, sagte Theresa, nachdem sie Hanna getrocknete Honigwurz gegeben hatte, aus der diese ihrem kleinen Sohn Tee zubereiten sollte. »Das wird sie alle irgendwann zum Schweigen bringen. Nimm dir ein Beispiel an mir! Ich lächle auch, obwohl sie gestern meinen Mann zusammengeschlagen haben, und ich viel lieber weinen würde.«
»Entschuldige, dass ich dich nicht gleich danach gefragt habe!«, rief Hanna. »Simon hat mir natürlich davon erzählt. Aber ich war so sehr mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt. Wie geht es Willem? Muss er sehr leiden?«
»Halb so schlimm, wie es zunächst ausgesehen hat. Er wird wieder gesund werden, und der Backenzahn, den er verloren hat, war ohnehin schon faul. Was aber, wenn sie es
wieder tun, Hanna? Wenn sie nun versuchen, uns gewaltsam aus Trier zu vertreiben?«
Die Freundin umarmte sie innig. »Das würde ich niemals zulassen«, sagte sie. »Und Simon auch nicht. Vor allem nicht, nachdem du uns diese beiden Augäpfel geschenkt hast.«
Für einen kurzen Moment war Theresa versucht, Hanna die ganze Wahrheit zu verraten, all die Geheimnisse, die sie seit Jahren wie eine Zentnerlast mit sich herumschleppte: dass sie das Kloster verlassen hatte, um mit Willem zu leben, der zu den guten Christen gehörte und daher keine Frau lieben und schon gar nicht heiraten durfte, dass man sie getrennt voneinander eingekerkert und hart verhört hatte, sie aber dank Geros Hilfe gemeinsam fliehen konnten und unterwegs Willems einzigen Verwandten verlassen hatten, damit er ihre Liebe nicht töten konnte; wie inständig sie Hanna
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