Die Prophezeiung
Katie an.
Ziemlich lange.
Superlange Sekunden.
Sie wollte seinem Blick standhalten, ihn trotzig anfunkeln. In solchen Dingen war sie sonst richtig gut. Aber sie schaffte es nicht.
Sie drehte sich abrupt um und sah aus dem Fenster. Nebel war aufgezogen und hüllte die Tannenspitzen in weiße Wolkenfetzen. Plötzlich hatte sie das unbändige Bedürfnis, irgendwo dort draußen zu sein, auf einem Berg, in einer Wand.
Flucht nach vorn.
Flucht nach oben.
Wie sie es immer gemacht hatte.
»Robert, ich kann jetzt unmöglich«, versuchte sie es dennoch. »… es geht einfach nicht.« Okay, das klang selbst in ihren Ohren lahm.
Robert schüttelte den Kopf. »Aber klar kannst du«, sagte er und sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er wandte sich an David. »In einer Stunde unten am Kamin.«
Grace Dossier
Ich mag tote Musiker wie Jimi Hendrix, weil sie ewig leben. Ich verfolge gerne den Aufstieg von lebenden Musikern. Ich weiß gerne alles über sie, und wenn ich nichts über sie erfahre, dann tut es auch die Yellow Press.
Ich mag Unschuld.
Ich mag Leidenschaft.
Ich mag verschiedene Musikrichtungen.
Ich schreibe gerne Songs und hasse gute Texte, die andere schreiben.
Ich bin gerne allein.
Ich mag Vinylplatten.
Ich liebe die Natur.
Ich mag Mädchen mit gelben Augen, aber ich liebe meine Gitarre.
Ich mag Drogen, weil sie mir alles versprechen.
Frank, 23. August 1974
Kapitel 9
Der Himmel war noch immer von einem dichten Nebel überzogen, doch schien er ihr heller als am frühen Morgen. Immer wieder erkannte Katie Roberts gelben Rucksack vor sich, der wie ein Leuchtsignal hin und her schwankte. Die kalte Luft machte sie endgültig wach, obwohl sie Mühe hatte voranzukommen. Der Schnee war in den letzten Tagen rasch geschmolzen, war aber an einigen Stellen noch so tief, dass sie bis zu den Knien einsanken. Er war nass und schwer und krallte sich an der Sohle fest, wie weißer Lehm.
Und immer wieder tauchten riesige Pfützen auf. Das Wasser schien von überallher zu kommen. Von allen Seiten rauschte und plätscherte es. Wenn die Temperaturen in den nächsten Tagen erneut fielen – und das würden sie, würde hier alles vereist sein.
Katie blickte auf die Uhr. Es war knapp zehn Uhr. In zwei Stunden hätte sie den Duke in Fields treffen sollen.
Ben hatte recht gehabt. Katie hatte das ganze Wochenende im November nach ihm gesucht. Aber sie hatte ihn nicht gefunden. Und dann, im neuen Jahr, war wie aus heiterem Himmel die Nachricht gekommen.
Wenn du dich mit mir treffen willst, ruf mich unter dieser Nummer an .
Sie hatte drei Tage gebraucht, bis sie die SMS beantwortet hatte.
Dein Name ist nicht Forster.
Stimmt.
Paul Forster ist tot.
Stimmt.
???????????????
Ruf mich an.
Wieder waren drei Tage vergangen, bis sie die Nummer tatsächlich gewählt hatte. Seitdem hatten sie mehrfach telefoniert. Aber seinen richtigen Namen hatte er nicht gesagt. Nicht wo er lebte und was er machte. Warum er damals mit auf den Ghost gegangen war. Und vor allem – warum er Katie so unverschämt und dreist geküsst hatte, um dann spurlos zu verschwinden.
Sie hatte daraufhin ihre Regeln festgelegt. Sie würde einem Treffen nur dann zustimmen, wenn er ihr erzählte, wer er war.
Er hatte geschrieben: Tag der Wahrheit.
Er wusste nicht, wie recht er damit gehabt hatte. Denn es war tatsächlich ein Tag der Wahrheit. Für Sebastien. Und sie selbst auch.
Ihr Blick fiel wieder auf den gelben Rucksack vor ihr. Ab und zu blieb Robert stehen und starrte über den See. Julias Bruder verströmte keine Hektik, keine Anspannung. Noch immer hatte er weder ihr noch David erzählt, was er genau vorhatte. Er hatte zu ihren Fragen geschwiegen und seine Miene war so ernst gewesen, dass sie es irgendwann aufgegeben hatten, ihn zu löchern.
Jemand wie Robert würde vermutlich sagen, dass Sebastien ihre Einstellung gespürt hatte, während er im Koma lag. Dass er gewusst hatte, wie schnell sie ihn abgeschrieben hatte.
Aber stimmte denn das? Sie hatte ihn nicht abgeschrieben, niemals. Aber … ihr Sebastien, in den sie sich verliebt hatte, der hatte plötzlich nicht mehr existiert. Er, der die Freiheit über alles hob, war nun abhängig von Maschinen, Menschen. Er, der immer gesagt hatte, der Geist bestimme über den Körper, war ein Gefangener seines Körpers.
Und jetzt?
Jetzt war er wieder in ihr Leben getreten und zwang sie zu einer Entscheidung.
Ihr Gehirn raste vorwärts und rückwärts. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Das
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