Die Prophezeiung
auseinander.
Sie trat an seine Seite. »Hilft es uns weiter?«
»Nicht, was Benjamin betrifft, aber …« Er reichte ihr den Zettel.
Das Erste, was Katie las, war ein Datum, das rechts oben mit einem Kugelschreiber notiert war: 22. August 1974.
Dann erst sah sie den Namen.
Eliza Chung.
Dies hatte ihre Mutter geschrieben. Vor fast vierzig Jahren. Und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, sie könne in ihre Seele schauen und dahinter das Mädchen entdecken, das sie gewesen war.
David rief ihren Namen. Sie konnte nicht antworten. Es war die unverwechselbare Schrift ihrer Mutter, diese seltsam verschnörkelten Buchstaben, untypisch für die englische Schreibweise.
Katie ließ das Blatt sinken und suchte Roberts Blick. Ahnte er, was in ihr vorging? Aber er sah sie nicht einmal an, ja, er tat so, als würde er ihre Erregung gar nicht bemerken.
David riss ihr das Papier aus der Hand. »Jetzt kapier ich gar nichts mehr. Sie waren hier unten? Die Studenten von damals waren hier?«
Robert schüttelte den Kopf. »Das ist kein Beweis.«
»Kein Beweis? Wie soll das sonst hierher gekommen sein?«
»Dafür gibt es viele Erklärungen.«
Davids Stimme überschlug sich. »Deine Erklärungen kannst du dir sonst wohin stecken. Mir geht gerade nur ein Gedanke durch den Kopf. Diese Studenten sind verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Und dieser Durchgang hinter uns ist verschlossen. Wir können also nicht mehr raus, oder? Was, wenn man uns hier nicht mehr findet?«
»Tom weiß, wo wir sind.«
»Keine Ahnung hat er.« David hob die Hände. »Ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen. Niemals.«
Katie rang mit sich. Sie musste nur ein Wort sagen und David würde sich beruhigen. Eliza oder vielmehr Mi Su war nicht verschollen. Sie saß jetzt vermutlich in ihrem Luxusapartment in Washington und trank ihren geliebten Sanjang, eine Sorte grüner Tee, der ausschließlich auf der südkoreanischen Halbinsel Bosung angebaut wurde und den sie sich von Katies Großmutter schicken ließ.
Aber sie konnte es nicht. Sie konnte nicht darüber sprechen. Denn wenn sie jetzt die Wahrheit sagte, würde alles real werden. Und sie versuchte mit aller Macht, den Gedanken zu verdrängen, dass sie nicht zufällig im Tal war.
Und würde es David wirklich beruhigen?
Vermutlich nicht.
Auch er würde begreifen – die Büchse der Pandora war nicht halb so gefährlich wie das Tal.
»Ist doch nur ein alter Zettel. Ich dachte, hier geht es um Benjamin und sonst nichts.« Was sie da sagte, klang hohl und leer, aber weder Robert noch David widersprachen.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Robert mit einem Blick auf seine Uhr.
Grace Dossier
Grace Morgan
09. September 1974
Es ist Vollmond.
Wir sitzen in einem Steinkreis. In der Mitte brennt ein Feuer, das von einem inneren Kreis aus faustgroßen Steinen eingefasst ist. Wir lassen uns daran nieder.
Kathleen kichert die ganze Zeit.
Martha gibt uns im Tonfall eines Predigers letzte Anweisungen und sagt Sätze wie »Das ist ein Geschenk der Natur und der Götter. Es soll uns mit der inneren und äußeren Natur verbinden. Es öffnet das Tor zur Anderswelt, wo wir der wahren Wirklichkeit begegnen. Lasst uns vom Baum der Erkenntnis essen und das Göttliche in der Natur und in uns erkennen. Und wir werden die Liebe entdecken zu den Pflanzen und Tieren, zur Erde und der Galaxis, zu den Göttern und Göttinnen, aber vor allem zu uns selbst.«
Das Ritual ist Pauls Idee gewesen. Er hat die Pilze gefunden. Aber Martha weiß, was wir machen müssen.
Einen Tag vorher hat sie ein Verbot ausgesprochen. Alkohol, Sex und … schlechte Gedanken – alles tabu. Und auf Marthas Befehl haben wir am Abend zuvor nichts als eine Suppe (ihh, aus der Dose) zu uns genommen. Ich habe mich in der Nacht nach unten geschlichen, wo ich Paul getroffen habe. Wir haben gemeinsam eine ganze Rolle Kekse hinuntergeschlungen.
Martha ist den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, nach einem – heiligen – Ort zu suchen. Die Pilze wurden mit Kräutern gereinigt und in der Opferschale aufbewahrt. Zur Vorbereitung haben wir uns mit dem Schnee vom Gletscher gewaschen.
Martha trägt übrigens ein Kleid aus Waschleder mit langen Fransen und sieht aus wie eine übergewichtige Weiße, die sich als Indianerin verkleidet hat. Wie kann man nur so idiotisch sein, so ein Kleid in den Rucksack zu packen? Jedenfalls hebt sie den Kochtopf in den Himmel (eine Opferschale gibt es in der Berghütte nun mal nicht) und murmelt diese Sprüche vor
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