Die Prophezeiung
den Kopf. »Glaub ich nicht. Diesen Saal gibt es schließlich nicht erst seit gestern. Das Dach hat schon manchem Sturm im Tal standgehalten. Vielleicht gibt es unterirdische Strömungen und das Wasser drückt auf die Glasfläche?«
Roberts Erklärung beruhigte Katie nicht. Dieses Geräusch klang nach einem Erdbeben der Stärke sieben auf der Richterskala, nicht nach Strömungen. Als ob die tektonischen Platten sich verschoben. Sie rechnete fest damit, dass Wasser einbrach und sie ertrinken würden.
Und dann war es plötzlich wieder vorbei.
Stille hüllte sie ein und Angst.
Ja, Angst, Angst, Angst.
Verfluchte Scheiße.
Katie wollte einfach nur hier weg, das wurde ihr jetzt mit aller Macht deutlich. Keine Nachrichten über ihre Mutter konnten sie mehr ablenken, keine neuen Erkenntnisse über das, was auf dem Ghost passiert war.
Mensch, Katie, wach auf!
Du bist gefangen unter einem riesigen See! Millionen von Kubikmetern von Wasser lasten über euren Köpfen! Und es war noch nicht einmal sicher, ob sich irgendeine dieser Fuck-Mauern bewegen würde, damit sie hier rauskamen.
Katies Finger krampften sich zusammen. Sie wollte die Papiere vor ihr vernichten, in denen David schon wieder herumblätterte, als hätte er ein Recht dazu. Vernichten, zerreißen, verbrennen. Aber in diesem Moment legte Robert ihr die Hand auf die Schulter. Seine schmalen Finger waren federleicht und doch schaffte er es abermals, Katie mit der Geste zu beruhigen.
»Kommt mit«, sagte er. »Das müsst ihr euch ansehen.«
»Was meinst du?«, fragte Katie.
Robert schenkte ihr einen seiner rätselhaften Blicke. »Nicht alle Nischen sind leer.«
Die Figur, die in gekrümmter Haltung auf einem Sockel in der Nische ruhte, war lebensgroß. Das linke Bein angewinkelt, das rechte gestreckt, lag die Frau oder das Mädchen auf dem Bauch. Die Knie pressten sich gegen den Unterkörper und der Kopf kam seitlich auf einem Felsen zum Liegen. Dennoch konnte man das Gesicht gut erkennen. Mit den geschlossenen Augen wirkte sie, als ob sie schlief.
»Sie sieht ein wenig aus wie die Venus von Milo, oder«, fragte Katie. »Nur dass sie noch beide Arme hat und nicht im Louvre schläft. Wir müssten Rose dabeihaben, die versteht mehr davon, aber ich glaube nicht, dass irgendein herausragender Künstler für die Statue verantwortlich ist.«
Katie beugte sich vor, um die Oberfläche des bräunlichen Steins besser in Augenschein nehmen zu können. Sie war rau und spröde, wirkte nicht bearbeitet. Dennoch war eine Andeutung der Kleidung, der Augen, der langen wallenden Haare zu erkennen.
Katie trat einen Schritt zurück. Erinnerte die Statue sie an jemanden? Ja, aber sie kam nicht darauf, an wen. Sie kniff die Augen zusammen und registrierte noch etwas.
Was war das dort über dem Sockel an der Wand? Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, aber sie konnte es von hier aus nicht genau erkennen.
»Es ist eine Inschrift«, erklärte Robert. »Sie ist in den Stein gemeißelt.«
Katie sah sich um. David schied aus, er hatte genug damit zu tun, auf seinen Beinen zu bleiben.
»Hilf mir mal, Robert«, bat sie.
Julias Bruder trat tatsächlich dicht an die Mauer und verschränkte die Hände ineinander, sodass eine Trittfläche entstand. Sie hob das rechte Bein und stützte sich an seinen Schultern ab. Für den Bruchteil einer Sekunde gab er nach.
»Wenn du mich fallen lässt, verklage ich dich.«
»Ich lass dich nicht fallen.«
Sie schwankte kurz, griff nach der Kante des Pfeilers und zog sich hoch.
»Taschenlampe.«
Robert bückte sich und zog die Taschenlampe aus dem Rucksack. Sie hielt die Taschenlampe direkt auf die Inschrift.
Als Erstes las sie das Datum.
10. September 1974.
Und als sie schließlich den Namen entziffert hatte, wurde ihr schwindelig. Für einen Moment verlor sie vor Schreck das Gleichgewicht und packte den nächsten Vorsprung, den sie erreichen konnte. Sie fand tatsächlich kurz Halt, doch dann spürte sie, wie etwas abbrach. Sie schwankte und ließ los.
Eine der wichtigsten Regeln beim Klettern: Immer auf die Füße fallen, wie eine Katze. Und tatsächlich landete Katie mit beiden Beinen auf dem Boden. Erst nach einem Augenblick bemerkte sie, dass es ein Stück von der Statue war, das sie abgebrochen hatte. Sie hielt es noch immer in der Hand.
Wie die Venus von Milo war die Statue nun nur noch ein Torso, dem die linke Hand fehlte. Und sie war schuld.
Dann geschah alles in Zeitlupe. Robert beugte sich zu ihr hinüber, nahm ihr das Stück
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