Die Prophezeiung der Steine
daraufhin bestürzt gewesen - sie waren geborene Musiker, nicht gelernte, und obwohl sie jeden Tag wie besessen übten, war ihnen nie der Gedanke gekommen, dass es jemanden geben könnte, der gern musizierte, ohne darin gut zu sein. Musik zu lieben gehörte natürlich zu den Grundlagen des Menschseins, aber das Musizieren zu lieben, das Handwerkliche - sie hatten geglaubt, Liebe und Talent gingen miteinander einher.
Wie immer war seine Mutter die Erste gewesen, die die Fassung wiedergewann. »Wir finden für dich ein anderes Gewerbe, das du lieben wirst«, hatte sie gesagt.
Das hatten sie natürlich nicht, denn außer Doronit wollte kein Mensch einen schlaksigen Neunzehnjährigen, dessen einzige Talente aus einer unbegabten Hand auf der Trommel und einem Kopf voller Wandererlieder bestanden. Und
so hatte Ash gelernt, ein Mörder zu sein, und fragte sich nun, ob dies ein Handwerk war, das diejenigen, die es ausübten, liebten.
Ein Strom warmer Luft mit dem Geruch von Parfüm und Essen überflutete Ash, und er blieb auf der ersten Stufe des Bürgerhauses stehen. Es war brechend voll. Tanzend und singend schoben sich Nachzügler die Treppen hinab auf die Straße. Silber, rot und blau angemalte Gesichter grinsten, küssten einander und trällerten: » Er war betrunkener als ein Weinbottich, betrunkener als ein nasser Furz, ooooh, er war der betrunkene Schneider von Pii-ii-say …«
»Und ich habe sie geliebt, Arvid, wirklich«, weinte sich ein Mann an der Schulter seines Freundes am unteren Treppenabsatz aus. »Aber sie war verlogen und ein Drache, genau wie ihre Mutter.«
Die silberne Farbe färbte auf Arvids Jacke ab. Er strich dem Mann mit einer sonderbar zärtlichen Geste über das Haar. Als er aufschaute und Ashs Blick begegnete, errötete er. Er steckte die Hand wieder in die Tasche.
»Zerbrich dir ihretwegen nicht den Kopf, Braden«, sagte er. »Komm rein, und betrink dich.«
»Du bist mein bester Freund, Arv, mein allerbester Freund auf der ganzen Welt …«
Sie drehten sich um und gingen Arm in Arm wieder die Stufen hinauf. Dabei rempelten sie ein Paar an, das sich beim Hinuntergehen gerade küsste. Einen Moment lang glaubte Ash, es sei Doronit; sie hatte das gleiche dunkle Haar, trug das gleiche silberne, wallende Kleid. Es fühlte sich an, als habe ihn jemand in den Magen getreten. Dann begriff er, dass sie es nicht war. Dennoch wurde er von seiner Reaktion überwältigt; sein Herz hämmerte, er war aufgewühlt und schwitzte und fröstelte zugleich.
Er lief davon. Dabei hielt er sich an die Seitengassen, in denen weniger Menschen waren, und er rannte so schnell, wie er es in den Übungsstunden tat, wenn Doronit auf ihn wartete. Er rannte über die Märkte, auf denen die Rufe der Verkäufer und Weinhändler laut schallten, entfernte sich von den verwinkelten Straßen mit Wohnhäusern, aus deren Fenstern überall Licht strömte und Geisterwimpel heraushingen. Immer weiter lief er, bis er endlich den langen Hügel erreicht hatte, der zu den Klippen außerhalb der Stadt führte.
Doch wohin er auch lief, überall sah er Geister.
Auf den Gipfeln der Klippen drängten sie sich in Erwartung des Morgens nahe am Rand zusammen. Sie schauten auf die Lichter der Stadt. Einige von ihnen verblassten bereits, obwohl es noch keinesfalls dämmerte. Das war der Beweggrund des Festes: die Stadtgeister auszumerzen, die schwachen zu verscheuchen und die starken zu beleidigen, damit sie für immer verschwanden. Ohne das Fest, hatte sein Vater ihm erzählt, gäbe es in Turvite bei Weitem mehr Geister als Menschen. Mittlerweile fragte er sich, wie viel sein Vater wohl von einem Geist wahrnehmen konnte.
Jung und alt, groß und klein schmiegten sich aneinander. Es schien keinen Ort zu geben, an dem Ash ihnen entgehen konnte, keinen Ort, an dem er allein sein konnte, um sich die Dinge durch den Kopf gehen zu lassen. Das war nicht gerecht, war es nie gewesen.
Er war bei Doronit an einem Ort gelandet, den er endlich zu dem seinen machen konnte. Doch wenn dies bedeutete, dass er ein eiskalter Mörder würde sein müssen, war er sich nicht sicher, ob er ihn wollte. Nicht einmal für Doronit. Er wollte nicht das Messer sein, welches das Messer schneidet. Aber was sonst würde er dann werden?
Außer dieser einen Tür standen ihm keine anderen offen. Ash hätte schreien wollen oder protestieren, aber wozu? Er war ein Wanderer, der sich nicht mehr auf Wanderschaft befand, und für ihn gab es in Actons Land nirgendwo einen anderen
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