Die Prophezeiung der Steine
Fluss wartete eine Gruppe Pilger auf die Fähre. Sandalwood war zwar eine große Stadt, doch in der Nähe des Hafenbeckens gab es keine Häuser, sondern nur grüne Felder. Der Führer der Pilger trug den traditionellen Stock, an dessen oberes Ende ein Bündel grüner Blätter gebunden war. Er bemerkte, dass Bramble sie beobachtete.
»Zur Talaue hier entlang«, sagte er und setzte ein breites Lächeln auf. »Ich bin Marp. Früher war ich Händler, habe Teppiche und dergleichen aus den Wind Cities verkauft. Ich kenne diese Domäne und noch ein paar andere recht gut.«
»Nicht viele Menschen, die keine Wanderer sind, kommen so viel herum«, meinte Bramble.
»Wohl wahr, so ist es.« Er warf einen raschen Blick auf ihr schwarzes Haar. »Ich nehme die Menschen so, wie sie sind. Die Wind Cities sind voller Menschen, die aussehen wie Wanderer, und ich behandele sie wie jeden anderen auch.«
»Was machst du jetzt?«
»Tja Mädchen, Pilger führen. Pilger zu führen ist jetzt meine Arbeit im Leben.« Er strahlte glückselig. »Die Quelle der Geheimnisse hat mir gesagt, dass dies meine Arbeit im Leben ist. Und was sie sagt, ist wahr.«
Woher weißt du das? , fragte sich Bramble. Sie hatte Menschen, die der Quelle der Geheimnisse nie begegnet waren, das Gleiche sagen hören, und sie bezweifelte es, so wie sie das Meiste anzweifelte. Marp schien ein intelligenter, vernünftiger Mann zu sein, der sein bisheriges Leben auf die bloße Behauptung einer Fremden hin verändert hatte. Warum? Es hieß, sie könne auch vergeben, Sünden und Schlimmeres, doch manchmal verlange sie mehr von den Menschen, als diese zu tun bereit waren.
Ob die Quelle der Geheimnisse ihr zur Wiedergeburt verhelfen konnte? Würde sie ihr zumindest sagen, wie lange sie dieses Halbleben aushalten musste?
Die Quelle der Geheimnisse lebte derzeit weit im Norden, in Oakmere, erzählte ihr Marp, einem Dörfchen an der Straße nach Endholme, in der Last Domain. Ein Dörfchen war es einmal gewesen, aber was nach ein paar Jahren der Pilgerschaft daraus geworden war, konnte sich ja jeder denken. Bramble konnte sich vorstellen, was passiert wäre, wenn die Quelle der Geheimnisse in ihr Dorf, nach Wooding, gezogen wäre. Sie sah die hastig errichteten Gasthöfe, die Freudenhäuser, die Läden mit teuren Lebensmitteln, die Speisewirtschaften, die Andenkenverkäufer … Selbst unter dieser Handvoll Familien herrschte Gier.
Die Fähre war ein flacher Schleppkahn, geeignet gleichermaßen für Pferde und Karren wie auch für Menschen. Sie wurde nicht durch ein Ruder angetrieben, sondern mittels eines Taus an zwei riesigen Rollen zwischen den Ufern hinund hergezogen. Der Fährmann holte Bramble als Letzte herüber, obwohl offenkundig war, dass sie als Erste am Dock gewesen war. Marp wollte zu ihren Gunsten Protest einlegen, doch sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich nicht die Mühe zu machen. Es hatte keinen Sinn, sich zu beschweren. Die Pilger setzten ihren Marsch durch die
Stadt fort. Bramble und der Rotschimmel steuerten müde und durstig das nächste Gasthaus an.
Sie fragte sich, ob der Gastwirt sie wohl hinauswerfen würde, doch als sie sich an einen kleinen Tisch in einer Ecke setzte, schenkte ihr niemand Beachtung. Während sie sich umschaute, sah sie, dass hier noch andere Wanderer saßen. Zumindest zwei waren unverkennbar, junge Männer mit tiefschwarzem Haar und Mandelaugen, gut aussehend und umso auffälliger, weil sie Zwillinge waren.
Am Nachmittag war es ein wenig kühl geworden, sodass Bramble sich das Wolfsfell um die Schultern gelegt hatte. Das Fell, vielleicht auch etwas anderes an ihr, zog die Aufmerksamkeit der Zwillinge auf sich, und die beiden kamen mit ihren Getränken zu Bramble.
»Was dagegen, wenn wir uns zu dir setzen?«, fragte einer der beiden. Er hatte ein freundliches Lächeln. Sie erkannte, dass er der Mutigere der beiden war, derjenige, der Aufregung und ein wenig Risiko liebte. Kein Wunder, dass er sich für ein Mädchen in einem Wolfsfell interessierte, dazu auch noch ein Wanderermädchen. Er war jemand, auf den sie in der Zeit vor dem Sturz in den Abgrund Lust verspürt hätte. Aber auch der Teil in ihr, von dem Verlangen ausging, schien tot zu sein.
Sie zuckte mit den Achseln und rückte beiseite, um ihnen Platz zu machen.
»Ich bin Ber«, sagte der junge Mann, »und das ist Eldwin.« Er deutete mit dem Kopf auf seinen Zwillingsbruder.
»Bramble«, sagte sie.
»Dann erzähl mir mal alles über dich«, sagte er leise
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