Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
mussten sie sich gönnen. Morgen früh um 7:30 Uhr sollten Wallner und Schönlieb dann wieder bei ihm im Büro sein. Lange würde er also nicht schlafen können, es ging jetzt darum, den Schlafmangel der vergangenen Nacht möglichst gut zu kompensieren.
Als er die Tür zum Treppenhaus aufgeschlossen hatte, strömte Schönlieb jedoch nicht nur warme Luft entgegen, sondern sofort auch ziemlicher Krach. Irgendjemand sang lauthals und völlig schräg einen Song, von dem Schönlieb meinte, ihn schon einmal in einem Disney-Film gehört zu haben. Er seufzte, da er sofort wusste, was das bedeutete, und seine Laune verschlechterte sich schlagartig. Singstar-Party bei Mitch.
Schönlieb verabscheute dieses Karaokespiel für die Playstation. Vorgeblich ging es dabei darum, ein Lied textsicher nachzusingen und die Töne richtig sowie zum richtigen Zeitpunkt zu treffen. Tatsächlich war das Spiel aber nur ein Alibi dafür, laut herumzuschreien und seine Nachbarn in den Wahnsinn zu treiben. Mitch, der eigentlich Mitchell Adams hieß, wohnte direkt neben Schönlieb, und seine Singstar-Partys hatten ihn schon die eine oder andere Nacht um den Schlaf gebracht. Mitch war der Sohn eines ehemals in Deutschland stationierten US-Soldaten, was seinen amerikanischen Namen erklärte. Mittlerweile waren sein Vater und seine Mutter in die USA zurückgekehrt, Mitch war geblieben. Kennengelernt hatten sie sich, als sich Schönliebs Frust über die lauten Singstar-Partys so weit aufgestaut hatte, dass er sich überwand, bei seinem Nachbarn zu klingeln, wenn der ihn wieder einmal mit einem selbst gesungenen U2-Song oder Rihanna-Hit quälte. Bisher hatte Mitch jedes Mal Besserung gelobt und ihn freundlich dazu eingeladen, einfach mitzufeiern, doch Schönlieb hatte immer wieder dankend abgelehnt und war zurück in seine Wohnung gegangen. Manchmal wurde die Singerei daraufhin tatsächlich für den Rest der Nacht leiser, manchmal nur für fünf Minuten. Schönlieb besaß inzwischen einen ordentlichen Vorrat an Ohropax. Im Gegenzug hatte Mitch immer wieder vor Schönliebs Haustür gestanden und gefragt, ob er nicht etwas Milch, Bier oder Klopapier ausleihen könne.
Schönlieb und Mitch waren in den letzten Jahren, in denen sie nebeneinanderwohnten und sich gegenseitig an der Haustür besuchten, so etwas wie befreundete Nachbarn geworden, was wohl auch daran lag, dass Schönlieb jemand war, der weder besondere Energie in das Knüpfen noch in das Abwehren von Freundschaften steckte. Mit der sicheren Gewissheit, heute entweder bei Mitch klingeln zu müssen und als Spielverderber dazustehen oder bis spätnachts kein Auge zuzumachen und seinen dringend benötigten Schlaf nie aufzuholen, ging Schönlieb mies gelaunt die drei Stockwerke hoch.
Als er seine Wohnungstür aufschließen wollte – er hatte den Schlüssel schon herausgeholt und visierte gerade das Schlüsselloch an –, öffnete sich die Nachbarstür. Das leicht gerötete Gesicht von Mitch erschien.
»Digger!«, begrüßte er ihn mit einem breiten Grinsen. Mit »Digger« sprach Mitch jeden an, egal welchen Geschlechts, welchen Alters oder wie gut oder schlecht er jemanden kannte.
»Moin«, antwortete Schönlieb so knapp wie möglich.
»Ich wusste doch, ich hab etwas gehört«, fuhr Mitch fort. Wie zum Teufel konnte er bei dem Krach in seiner Wohnung etwas im Treppenhaus hören? »Hast du Bock rüberzukommen, alter Scheißbulle?« Er zwinkerte Schönlieb zu. »Es sind ein paar heiße Frauen am Start.«
»Ich bin müde. Sehr langer Tag«, antwortete Schönlieb. »Kannst du leiser machen?«
»Komm schon, Digger!«, drängelte Mitch und öffnete die Tür jetzt ganz. »Beehre mein Haus, werter Nachbar. Nur ein einziges Mal.«
Aus der Tiefe der Wohnung drang Gelächter, und ein neues Lied begann. Quit Playing Games with my Heart von den Backstreet Boys in einer Neuinterpretation von mehreren krächzenden Männerstimmen.
»Ne, lass mal, heute nicht«, sagte Schönlieb und gähnte demonstrativ.
»Ach so, heute nicht«, antwortete Mitch nur und schaute ihn schief grinsend an. »Eines Tages krieg ich dich.«
»Klar«, antwortete Schönlieb. »Nacht.«
»Nacht.«
Sie nickten sich noch einmal zu, dann verschwand Mitch wieder in seiner Wohnung, und die Tür schloss sich. Kurz darauf hörte Schönlieb, wie Mitch bei den Backstreet Boys mit einstimmte.
Schönlieb trat in seine Wohnung, zog die Schuhe aus, streifte den Mantel ab und ließ ihn einfach auf den Boden im Flur gleiten. Er ging in die
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