Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
die bäuchlings auf dem Boden lagen und mit Barbiepuppen spielten. Er öffnete die Tür.
»Hallo ihr beiden, wo ist denn das Zimmer eures Bruders?«
Hätte er schon etwas sagen sollen? Erweckte er jetzt den Eindruck, als ob ihr Bruder noch leben würde? Bald würden sie von seinem Tod erfahren. Das würden sie nie mehr vergessen. Die Mädchen schauten ihn etwas verschüchtert mit großen dunklen Augen an.
»Das hier ist sein Zimmer«, sagte die eine wie selbstverständlich.
Sie zeigte auf ein Bett in der einen Ecke des Zimmers. Das Bett war ordentlich gemacht. Darüber war ein kleines Bord angebracht, auf dem ein paar dicke Bücher standen. Das Strafrecht, ein dicker Kommentar zum BGB und weitere Bücher, die sich rund um Gesetze drehten, wie Schönlieb erkennen konnte. Neben dem Bord hing ein Poster von Ronaldinho. Es stammte aus Zeiten, in denen er noch bei Barcelona spielte. Es passte nicht zum Erscheinungsbild der kleinen Ecke, die anscheinend Huynhs Bereich gewesen war. Überhaupt passte hier einiges nicht. Schönlieb dachte wieder daran, wie sie Huynh Nguyen gefunden hatten, in seinen feinen Klamotten, die teure Uhr um das Handgelenk, und auch, wie er auf dem Foto vom Schwarzen Brett gewirkt hatte. Alle diese Eindrücke, die Schönlieb bisher von Huynh bekommen hatte, passten nicht zu dieser kleinen Ecke in diesem Zimmer.
Schönlieb schaute sich weiter um. In der anderen Ecke diagonal gegenüber von Huynhs Bett stand ein Doppelhochbett, auf dem ordentlich zwei rosa Bettdecken lagen. Rund um das Doppelhochbett lag allerhand Spielzeug, das meiste war etwas von Barbie. An der Längsseite des kleinen Raumes stand ein kleiner Schreibtisch, auf dem gerade eben ein alter Röhrenmonitor und eine Tastatur Platz fanden. Unter dem Schreibtisch befanden sich ein Rollcontainer mit Schubladen und ein großer Computer.
»Ist das der Schreibtisch von eurem Bruder?«, fragte Schönlieb die beiden Mädchen. Sie nickten.
Schönlieb ging zu dem Schreibtisch und stellte den Computer an. Es ratterte ziemlich laut. Die beiden Mädchen hatten aufgehört zu spielen und beobachteten Schönlieb sehr genau.
»Wir dürfen nicht an den Computer«, sagte eines der Mädchen. »Huynh ist sehr sauer, wenn wir da rangehen.«
»Wir sollen die Finger von seinen Sachen lassen«, sagte das andere.
»Das geht schon in Ordnung«, beteuerte Schönlieb und blickte Huynhs Computer an. Etwas stimmte nicht.
Schönlieb setzte sich auf den kleinen Schreibtischstuhl. Er war nicht sehr stabil und wackelte ein wenig. Der Bildschirm ging an, es dauerte eine Weile, dann erschien eine Passwortabfrage. Na klasse , dachte Schönlieb und stand wieder auf. Den Computer würden sie mitnehmen müssen. Schönlieb bemerkte, dass die beiden kleinen Mädchen aus dem Zimmer verschwunden waren. Der fremde Mann war ihnen wohl zu unheimlich geworden. Schönlieb öffnete die oberste Schublade des Rollcontainers. Und staunte nicht schlecht. Sieh mal einer an! Diese Momente mochte er besonders gern, in denen man plötzlich etwas entdeckte, von dem man wusste, dass es den Fall vorantreiben würde. Wenn man eintauchte in das Leben eines anderen Menschen und langsam mehr und mehr zum Vorschein kam. Ein Geheimnis, das man zu lüften begann.
Schönlieb blickte auf mehrere fein säuberlich aneinandergereihte hellblaue Pappschachteln: Ritalin. Er zählte schnell durch. Siebzehn Schachteln. Neben ihnen lagen einige kleine Plastikbeutel. Die meisten waren mit zwei, drei Pillen in verschiedensten Farben gefüllt. Ein Beutelchen, auf dem ein grünes Hanfblatt gedruckt war, enthielt etwas Gras und sah für Schönlieb eher nach Eigenbedarf aus. Beim Rest war er sich allerdings sicher, dass Huynh hier nicht nur seinen eigenen Konsum an Drogen abdeckte. Sie hatten eine erste Spur, die Sache begann spannend zu werden. Der Tote hatte mit Medikamenten und Drogen gedealt.
Schnell riss Schönlieb auch die anderen Schubladen auf, deren Inhalt jedoch bei Weitem nicht an die erste Schublade heranreichte. Blöcke, Stifte, Zettel … Studienmaterialien. Schönlieb setzte sich auf Huynhs Bett, drehte eine der hellblauen Schachteln immer wieder in der Hand und fragte sich, ob er die Eltern auf die Medikamente und Drogen ansprechen konnte. Vielleicht war es dafür zu früh, aber was hieß schon zu früh? Er war sich gerade bei diesen zwischenmenschlichen Taktfragen nie ganz sicher. Logische Kausalketten machten ihm keine Probleme, menschliche Gefühle und Befindlichkeiten hingegen schon. Er
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