Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
Blick wanderte zum Rand des großen Bildes. Dort befand sich das Profilbild von Huynh, in einem weißen Hemd schaute er ernst in die Kamera. Schönlieb klickte weiter. Huynh hatte sein Profil leider so eingestellt, dass Schönlieb nicht alles ansehen konnte – zum Beispiel keine Fotos, dafür konnte er sehen, mit wem Huynh befreundet war, und auch auf der Pinnwand fanden sich erfreulich viele Nachrichten. Damit konnte Schönlieb arbeiten. Nach und nach las er die Einträge, klickte sich durch die Seiten von Huynhs Freunden, schaute sich deren Fotos an, verglich Freunde, schlussfolgerte erste Beziehungen und Bekanntschaften, schaute nach, wer noch »studiert Rechtswissenschaften in der Uni Hamburg« angegeben hatte, und tauchte so immer tiefer in das Leben von Huynh ein. Es war erstaunlich, was er auf diese Art und Weise alles herausfand: Nach nicht einmal fünf Minuten wusste Schönlieb bereits, dass die junge Frau von dem Foto und Huynhs Profilseite tatsächlich seine Freundin war und Marie von Hohenzollern hieß. Sie studierte zwei Semester unter Huynh ebenfalls Jura. Nach fünfundvierzig Minuten hatte Schönlieb den Freundeskreis von Huynh so weit eingegrenzt, dass er eine ungefähre Vorstellung davon hatte, mit wem er sich regelmäßig traf und feierte. Da waren Johann Sattler, Alexander Röhnsdorf, Mark Lieberheim und Dennis Plaschke, allesamt Studenten der Rechtswissenschaften und, wie es schien, aus gutem Hause. Immer wieder war Huynh mit ihnen auf Fotos zu sehen. Auf den meisten Fotos grölten sie ins Bild und hielten Bierflaschen oder Longdrinks in den Händen. Auf ein paar Bildern trugen sie Deutschlandhüte, vermutlich auf dem Fanfest zur letzten Europameisterschaft. Weitere Bilder zeigte die Gruppe beim Grillen im Stadtpark und auf einem Segeltörn. Schönlieb versuchte sich die Gesichter einzuprägen. Vielleicht bekam er bei diesen Jungs mehr über Huynh heraus. Anschließend notierte er sich ihre Namen. Wenn es ihm nicht als verdeckter Polizist gelang, etwas herauszubekommen, würden sie die vier später befragen, ganz offiziell. Er war zufrieden mit seiner Ausbeute.
Schönlieb ging zurück auf sein eigenes Profil und verzog leicht das Gesicht. Christian Spitz, dieser Penner, wollte noch immer mit ihm befreundet sein. Unfreiwillig kamen Schönlieb sofort Erinnerungen an seine Schulzeit in den Kopf. Ziemlich unschöne Erinnerungen. Nachdem seine Eltern sich getrennt hatten, hatte er sich immer weiter zurückgezogen. In dieser Zeit wollte er mit niemandem sprechen und für sich alleine sein. Gut, er hatte auch keine andere Wahl gehabt. Sogar jetzt, im Nachhinein betrachtet, hatte er nicht das Gefühl, dass ihm damals jemand zur Seite gestanden hatte. Er war ein Junge von gerade acht Jahren gewesen, und weder Schulfreunde noch irgendwelche Erwachsene hatten nach der Trennung seiner Eltern etwas mit ihm anfangen können. Als Allerletztes sein Vater. Schönlieb konnte bis heute nicht verstehen, wie sein Vater hatte einfach mit dem Alltag weitermachen können. Als wenn nichts gewesen wäre. All die Routinen hatten sie beibehalten, als wenn seine Mutter noch da gewesen wäre, aber das war sie nicht, und sein Vater hatte sie nicht ersetzen können. Sie war weg gewesen. Von einem Tag auf den anderen nicht mehr da. Die anderen Kinder in der Schule hatten für so existenzielle Probleme kein Verständnis gehabt. Selbst seine Freunde. Wie sollten sie auch? Sie hatten zum Großteil ja nicht einmal davon gewusst. Stattdessen war seine zunehmende geistige Abwesenheit und Zurückgezogenheit als »anders« wahrgenommen worden. Zu anders. Doch nicht nur er hatte sich zurückgezogen, auch alle anderen waren auf Abstand gegangen. Da seine Leistungen dennoch nie darunter gelitten hatten und er trotz seiner Probleme sehr gute Noten hatte, war er bald zum »komischen Streber« degradiert geworden. Er hatte sich schnell damit abgefunden, nicht jedoch seine Mitschüler. Allen voran Christian Spitz hatte ihn immer wieder beschimpft und die anderen Schüler dazu angestachelt, auf ihm herumzuhacken. Mit Erfolg. Christian Spitz, der Penner, der jetzt mit ihm bei Facebook befreundet sein wollte. Nach Jahren, in denen sie sich weder gesehen noch gesprochen hatten. Wie kam er nur darauf, dass Schönlieb annehmen würde?
»Freundschaftsanfrage ablehnen!«, sagte er ruhig. »Und fuck off.«
Schönlieb stand auf und war froh, nicht mehr von dieser Wut und Ohnmacht heimgesucht zu werden, die als Kind in pulsierenden Schüben seinen
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