Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
ging erneut ein Stockwerk weiter hinunter und war jetzt im dritten Stock. Auf der einen Seite, im alten Gebäudeteil, befand sich das Finanz- und Steuerrecht, auf der anderen Seite, im Neubau, das öffentliche Recht, wie Schönlieb auf einem großen Schild lesen konnte. Er blieb im alten Teil und ging durch eine Glastür in einen Raum hinein, den auf der einen Seite Bücherregale, auf der anderen Seite mehrere Tischreihen füllten. Er schaute die Tischreihen entlang und erblickte tatsächlich Johann, der zwischen zwei anderen Studenten vor einem MacBook saß, Kopfhörer aufhatte und konzentriert tippte.
Schönlieb ballte spontan die Faust, wie es Tennisspieler oft nach erfolgreichen Ballwechseln taten, achtete jedoch darauf, dass es nicht zu auffällig war. Jetzt konnte er seinen Plan in die Tat umsetzen: Johann ansprechen, Ritalin kaufen, Johann verhaften. Schönlieb holte noch einmal tief Luft, legte sich in Gedanken ein paar Worte zurecht und ging auf Johann zu.
Plötzlich stockte er und drehte sich blitzartig um. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Nur zwei Tischreihen hinter Johann saß doch tatsächlich Marie, ebenfalls vor einem Notebook. Auch sie schien konzentriert zu arbeiten. Schönlieb konnte das nicht glauben, doch seine Augen täuschten sich nicht, und das war ein großes Problem. Marie wusste, dass er von der Polizei war, sie durfte ihn nicht in einem falschen Moment entdecken und dann womöglich, wenn auch unabsichtlich, im letzten, entscheidenden Moment seine Tarnung auffliegen lassen. Ausgerechnet jetzt saß sie hier. Konnte sie nicht zu Hause sitzen und ihren Freund betrauern?
Schönlieb stellte sich hinter ein Regal und dachte nach. Sollte er einfach warten, bis Marie verschwand oder Johann aufstand und ging, um ihm dann zu folgen? Vielleicht war das tatsächlich das Beste. Er schaute vorsichtig um das Regal herum. Beide saßen nach wie vor konzentriert vor ihren Computern, und es machte nicht den Eindruck, dass sie bald aufhören würden zu arbeiten. Schönlieb schüttelte den Kopf. Marie hier, das konnte doch echt nicht wahr sein. Er würde sie auf jeden Fall noch einmal ausgiebig befragen, dazu, wie es zu dem Streit zwischen Alexander und Huynh kam und warum sie ihn verschwiegen hatte. Mittlerweile zweifelte er an seinem ersten Eindruck von Marie, dem schwachen, naiven Mädchen.
Plötzlich stand sie auf, ließ das Notebook jedoch geöffnet an ihrem Platz liegen und ging auf die Bücherregale zu. Direkt auf Schönlieb zu. Schnell lief er zum Ende des Gangs und war froh, als er sah, dass zwischen Wand und Regal genug Platz war, auch auf dieser Seite der Regalreihe entlangzugehen. Er verschwand auf der anderen Seite und blickte durch das Regal über die Bücher hinweg zu Marie, die immer näher kam. Nach ein paar Schritten standen sich die beiden direkt gegenüber, getrennt nur durch eine Wand aus Büchern. Den Kopf nach links geneigt, ging sie das Regal entlang und überflog die Buchrücken. Schönlieb konnte sie jetzt von Nahem sehen. Ihre Augen waren rot umrandet und die Haut darunter dunkel und von mehreren tiefen Furchen durchzogen. Die Trauer hatte sie wohl doch noch nicht ganz vergessen, was Schönlieb zu seiner eigenen Verwunderung beruhigte.
»Hey, Christoph.« Jemand tippte Schönlieb auf die Schulter. Er erschrak und wirbelte um die eigene Achse. Vor ihm stand Johann und schaute ihn mit einem schiefen Grinsen an. »Was ist denn mit dir los?«
Schönlieb atmete schnell, und sein Herz hämmerte in seiner Brust, so sehr hatte er sich erschreckt. Langsam beruhigte er sich, und seine Gedanken begannen sich zu ordnen.
»Hey, nichts, alles gut. Du hast mich nur erschreckt.« Aus dem Augenwinkel versuchte er die Bewegungen von Marie im Blick zu behalten.
»Anna hat mir von eurer Begegnung erzählt«, sagte Johann, und Schönlieb war noch verwirrter als vorher, bis er begriff, dass Johann Schönliebs gestrige und nicht die heutige Begegnung mit Anna meinte, die Begegnung, bei der Anna ihm die zwei Ritalintabletten geschenkt hatte. Mit einem Mal war er ganz Ohr. Jetzt schien der richtige Moment gekommen, seinen Plan umzusetzen. Wenn Johann ihm erst einmal die Tabletten anbot, war es auch egal, dass Marie auf der anderen Seite des Regals stand.
»Ja … genau, und sie hat mir deutlich gemacht, dass ich bei dir noch mehr Lernhilfen bekommen kann«, sagte Schönlieb und schaute Johann fordernd an. Johann kramte in seiner Hosentasche. Schönlieb triumphierte innerlich. Jetzt habe ich
Weitere Kostenlose Bücher