Die Quelle
die Reben, desto höher die Qualität der Trauben, aber umso geringer der Ertrag. Die wirklich außergewöhnlichen Weine werden aus Reben mit einem Alter von mehr als vierzig Jahren gewonnen.«
Johanna Grothe blieb stehen. Sie schnaufte.
»Gleich geht es weiter. Nur einen kleinen Moment.«
»Sie sind furchtbar fit«, sagte Benn.
»Nicht mehr so wie früher. Aber die Weinberge sind besser als jedes Sportstudio.«
Ihr Blick wanderte sinnierend über die Landschaft.
»Ich kenne hier Winzer, deren wirklicher Reichtum Reben mit einem Alter von neunzig Jahren und älter sind. Schon mit einem Alter von vierzig haben die Reben ihren Ertragszenit überschritten. Deshalb hacken viele Winzer ihre Reben nach knapp dreißig Jahren aus. Gute Trauben sind die Grundlage für einen besonderen Wein. Aber auch bei der Verarbeitung muss alles stimmen.«
Sie schien ihren eigenen Worten nachzuhängen, als überlege sie, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. Dann plötzlich drehte sie sich um, musterte Benn mit Feuer in den Augen.
»Die Lese begann dieses Jahr extrem spät. Wenig Sonne, zuviel Regen. Nach der Lese müssen die Trauben so schnell als möglich gekeltert werden. Da zählt jede Stunde. Die Länge der Gärung, die richtige Reifezeit, die Auswahl der Holzfässer und die Dauer der Nutzung, die richtige Hefe, die Mischung der Traubensorten ... Es gibt so viele Komponenten auf dem Weg zu einem guten Wein - und man kann so viele Fehler machen.«
Sie setzten ihren Weg fort. Benn schwirrte der Kopf, als sie das kleine Grundstück von Johanna Grothe erreichten. Der Feldweg durch die Weinberge führte an dem kleinen Garten hinter ihrem Haus vorbei.
Er hatte sich Erklärungen über Düngung, Schädlingsbekämpfung, Rebkrankheiten, die Handlese, die Bedeutung des Lichts, das Abbeeren und die unterschiedlichen Wege des Kelterns von roten und weißen Trauben angehört.
Sie geht völlig in ihrem Leben auf, dachte Benn. Sie liebt das, was sie tut. So sprach nur jemand, der womöglich spät, aber dann doch seine Bestimmung gefunden hatte.
»Ich gebe zu, ich werde künftig meinen Wein mit mehr Andacht genießen«, sagte Benn, als die Chemikerin die kleine Gartenpforte aufdrückte, und sie sich von der Rückseite dem Haus näherten.
Sie gingen durch einen Kräutergarten auf einen Schuppen zu, dessen löchrige Holzwände Benn bewusst machten, dass Johanna Grothe entweder niemanden hatte, der die notwendigsten Reparaturen für sie erledigte, oder es ihr nicht wichtig war.
Auf halbem Weg hielt Johanna Grothe plötzlich unter einem Apfelbaum an.
Im Nachbargarten kam eine männliche Gestalt näher und rief herüber. Johanna Grothe drehte sich schwerfällig um und antwortete mit lauter Stimme.
Benn erkannte den Mann. Es war der Nachbar, der ihnen vor wenigen Stunden erklärt hatte, dass kurz vor ihnen schon Männer nach Johanna Grothe gefragt hatten. Er erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei, und die Chemikerin beruhigte ihn.
Benn wartete ungeduldig, bis Johanna Grothe weiterging. Durch eine niedrige Tür traten sie in den Schuppen, an dessen Halbdunkel sich Benns Augen erst gewöhnen mussten. Für einen Augenblick nahm er nur Umrisse und Konturen wahr, von denen sich ein oder zwei zu bewegen schienen.
Doch dann hatten sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Auf der einen Seite lagen die unterschiedlichsten Gartengeräte kreuz und quer herum oder lehnten an den Wänden, während auf der anderen Seite Holzscheite sauber übereinandergeschichtet waren.
Benn trat hinter Johanna Grothe in einen kleinen Innenhof. Gegenüber lag das Haus zur Straße hin, rechts begrenzte eine hohe Mauer den Hof zum Nachbarhaus, und auf der linken Seite verband ein steinerner Anbau das Haus mit dem Schuppen.
Das Mauerwerk war fast überall mit üppig wuchernden Rankpflanzen überzogen. Zwei verwitterte Holzbänke standen neben der Tür am Haupthaus und dem Eingang zum Seitenanbau. Vor der Bank des Seitenanbaus stand ein wuchtiger Holztisch mit fleckiger Platte, auf der verschiedene Schüsseln mit Weintrauben, Äpfeln und Gemüse standen.
Ela Stein ließ einen Laut der Bewunderung hören, und Benn dachte daran, wie oft er und Francesca von solch einem heimeligen Ort als Ziel ihrer Wünsche geträumt hatten.
»Es gefällt Ihnen?« Johanna Grothe blieb stehen, sah sich um. »Aber lassen Sie sich nicht täuschen. Es macht viel mehr Arbeit, als man sich vorstellt. Allein das Laub im Herbst. Und den Garten habe ich auch nicht mehr im Griff. Ich
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