Die Quelle
Leathans Nacken gestochen und als
Anthalion auch diese hinauszog, betrachtete er sein vollendetes Werk… Jede
Nadel hatte einen tropfen Blut auf der blassen Haut hinterlassen… Eine
würdige Spur des Leidens… Fast bedauerte es Anthalion nun, durch seine
Berührung das Blut auf dem Rücken von Leathan verschmiert und so
seinem Werk die Vollkommenheit geraubt zu haben… Anthalion schluckte schwer,
als er sich erinnerte… Das Kind der Quelle hatte sich ihm verweigert, ihn
herausgefordert! Niemand forderte ihn heraus! Ungeduld erfasste Anthalion… Das
Erwachen Leathans dauerte ihm zu lang… Er wollte die Niederlage seines Feindes
genießen, und zwar sofort.
Er musste ein wenig nachhelfen… Vorsichtig hob Anthalion
den Kopf von Leathan und flößte ihm einmal mehr eine dunkle
Flüssigkeit ein. Das Rezept war ein anderes als jenes, das er zusammen mit
Loodera entworfen hatte. Das damals mühsam entwickelte Gift hatte Leathan
stets genährt, am Leben erhalten, doch dabei hatte es seinen Geist
gelähmt, bis er nicht einmal mehr fähig war, seinen Körper zu
befehligen. Diesmal wollte Anthalion Leathan wecken. Die Flüssigkeit, die
er ihm nun einflößte, lähmte zwar nach wie vor einen Teil des
Geistes, weckte aber dennoch das Bewusstsein auf und würde einfache
Körperfunktionen ermöglichen. So zumindest erhoffte Anthalion,
würde sich die Wirkung zeigen. Sicher war er sich dessen nicht.
Leathan spürte wie eine brennende Flüssigkeit
durch seine Kehle floss und sich in seinem Magen verteilte, wie Energie
spendendes Gift, das seinen Körper den Schmerz noch intensiver spüren
ließ. Noch immer war es ihm verwehrt zu schreien, doch er konnte das leise
Stöhnen hören, das anstelle eines Schreis seiner Kehle entsprang.
Seine von Tränen gefüllten Augen öffneten sich und offenbarten
verschwommen das lächelnde Gesicht Anthalions, ehe sie wieder zufielen.
Leathan vernahm aus der Dunkelheit seines Albtraumes die eisige Stimme seines
Feindes.
„Du hast einst den Begriff Leid falsch verwendet. Ich
denke, ich habe dich nun gelehrt, was Leid bedeutet.“
Anthalion ließ einen Augenblick verstreichen, als
wolle er sicher gehen, dass seine Worte verstanden wurden. Wohl hatte er oft
genug Menschen gefoltert, um zu wissen, wie lange seine Opfer brauchten, um in
einem solch leiderfüllten Augenblick Worte zu begreifen. Leathan hatte seinem
Feind nichts zu sagen, er wollte nicht antworten, er wollte nur noch den
Schmerz verschwinden lassen... Allmählich verstand er jedoch, dass Anthalion
ihn erst erlösen würde, nachdem er bekommen hatte, was er wollte. Er
musste es ihm geben... er wollte antworten, ein leises Röcheln war jedoch
alles, was er an Lauten zustande brachte. Das reichte offensichtlich, um
Anthalion zum Weitersprechen zu bewegen.
„Ich werde dir nun einiges zeigen und wenn du brav meinen
Gedanken folgst, werde ich dir vielleicht Gnade erweisen und dir wieder etwas
Schlaf gönnen.“
Anthalion legte eine Hand auf seine verschwitzte Stirn
und mit einem Schlag war der Schmerz weg. Leathan spürte, wie Tränen
der Erleichterung und der Verzweiflung sich von seinen Augen lösten.
Hätte er die Kraft dazu gehabt, hätte er um Gnade gebettelt… Er
hätte Anthalion angefleht, ihn nie wieder Leid erspüren zu lassen…
Statt die schmerzlosen Augenblicke zu genießen, fürchtete Leathan
nur noch, sie würden bald vorbei sein. Wie sollte er sie wieder ertragen
können? Leathan fühlte, wie sein Geist langsam aus seinem Körper
glitt… In Anthalions Gedankenwelt fand er einen zeitlosen Augenblick des
Friedens, als habe der Gott in sich und nur für ihn, eine Welt
außerhalb von Schmerz und Zeit geschaffen. Leathan empfand Dankbarkeit.
Er hatte vergessen, wie flüchtig Anthalions Geschenke waren, doch wurde er
schon bald daran erinnert. Noch während Leathan in diese Welt eintauchte,
kam ihm der Gott näher, wühlte in Leathans Gedankenwelt und fand
einen Weg ihm sein Wissen aufzuzwingen. Jetzt erfuhr Leathan, was der Herrscher
getan hatte und noch vorhatte. Jetzt begriff Leathan, er war nur geweckt
worden, um das Ausmaß seiner Niederlage zu erfahren.
Monate waren vergangen, seit Anthalion ihn gefangen
genommen hatte. Monate von denen Leathan nichts wissen wollte, und doch erfuhr
er alles darüber… Inzwischen waren alle Götter zurückgekehrt und
der Angriff auf Ker-Deijas stand bevor. Ein Teil von Anthalions Armee war per
Schiff unterwegs zur Mündung des Flusses Nara, um von dort aus die Stadt
einzunehmen.
Weitere Kostenlose Bücher