Die Quelle
sie den Wunsch zu weinen, doch
ihre Augen blieben trocken und verrieten nichts von ihrem Gemütszustand. Hatte
Anthalion nicht immer gesagt, Leid sei es, was einen Menschen zum Menschen
machte? Wie entsetzlich mussten Leathans Qualen sein, wenn Anthalion sie als
unerträglich empfand! Anthalion hatte wohl ihre Gedanken gelesen, denn er
wandte sich von ihr ab…
„Ich habe mich geirrt. Mein ganzes Leben lang bin ich nie
tief genug in die Gedanken meiner Opfer eingedrungen, um zu verstehen, was ich
angerichtet habe… Und jetzt willst gerade du mich daran hindern, Erlösung
zu schenken?“
Loodera legte zärtlich eine Hand auf Leathans Stirn.
„Bringen wir es einfach nur so schnell es geht zu Ende,
oder willst du lieber alle anderen Menschen opfern?“
Anthalions Aufmerksamkeit galt nun Loodera. Er betrachtete
ihre harmonischen, sanften Züge, die von ihrem vergangenen Leben zeugten. Plötzlich
fragte er sich, wie er es bloß geschafft hatte, diese kalte, berechnende
Frau aus ihr zu machen… doch hatte er das? Er wusste es doch besser. Er wusste,
wie leicht es gewesen war, Rachedurst in ihr zu entfachen. Wie sehr sich doch
diese Frau einbildete gelitten zu haben, nur weil sie innerhalb ihres Volkes
nie vermocht hatte, einen Platz zu finden… Wie dumm, wie selbstsüchtig sie
doch war! Und doch fügte sich Anthalion ihrem Wunsch. Er war nicht mehr
imstande sich gegen den vereinten Willen von Loodera und Kegasik zu wehren, er
hatte nicht nur seinen Feind besiegt, sondern auch sich selbst…
Kapitel 18
Ruvin war mit seinen Männern in das Versteck in den
Bergen zurückgekehrt. Die Höhlen, die entstanden waren, als ihr Volk
in längst vergangenen Zeiten noch hatte nach Erz graben müssen, waren
inzwischen fast zu einer zweiten Heimat geworden, dennoch sehnten sich alle
unter dem Volk der Wächter nach ihrer Stadt zurück. Obwohl sie nur
einen halben Tagesmarsch entfernt war, erschien sie ihnen inzwischen wie eine
ferne Oase des Friedens, wunderschön und unerreichbar. Im Grunde empfanden
sie Erleichterung darüber, dass nun endlich der Krieg begonnen hatte. Auf
die eine oder andere Weise würde das Versteckspiel ein Ende finden.
Ruvin wäre gerne mit Mehana und ihren neuen
Verbündeten in die Stadt geritten, sei es nur, um einmal wieder einen
Blick auf sie zu werfen. Seine Aufgabe lag jedoch in den Bergen. Er musste
weiterhin den Pass und die Schlucht bewachen, falls von dort noch
Verstärkung eintreffen sollte. Er musste für die Sicherheit seines
Volkes sorgen und sich für das Töten von Feinden bereithalten… Sein
Leben bestand nur noch aus unerwünschten Pflichten. In Abwesenheit aller
Führungskräfte, hatte er diese schwere Bürde alleine zu tragen.
*
Während sie durch den Wald ritten, um nach
Ker-Deijas zu gelangen, fühlte Mehana ein leichtes Prickeln im Nacken als
Vorbote einer Vision. Ihr Versuch sie zu unterdrücken scheiterte und erste
Bilder offenbarten sich ihren Gedanken. Ihr Pferd wurde langsamer und blieb
schließlich stehen, in Ermangelung an telepathischer Führung.
Sulidian und seine Männer blieben verwundert neben Mehana
stehen. Ohne dass er den Befehl dazu erteilen musste, flankierten zwei seiner
Krieger die Regentin, um sie aufzufangen, falls sie vom Pferd fallen sollte.
Sulidian konnte nicht umhin zu denken, dass diese Frau die
außergewöhnlichste Person war, der er jemals begegnet war. Er fragte
sich, wie lange es wohl dauern würde, bis er sich daran gewöhnen
konnte, diese mysteriöse Kraft, die ihr innewohnte, als selbstverständlich
und natürlich anzusehen. Als Mehana aus dem tranceähnlichen Zustand
erwachte, wirkte sie gefasst, dennoch konnte Sulidian auch Furcht unter der kühlen
Fassade der Regentin erkennen. Sulidian musste nicht lange warten, um den Grund
dafür zu erfahren.
„Die Armee des Gott-Königs hat bereits Ker-Deijas
eingenommen. Sie haben den Weg vom Süden aus entlang des Flusses schneller
zurückgelegt, als wir es erwartet haben. Sie haben entdeckt, dass mein
Volk sich in den Bergen versteckt. Soldaten sind auf dem Weg zu unserem
Versteck, um alle zu töten!“
Sulidian spürte wie Adrenalin durch seinen
Körper floss und seinen Geist beflügelte. Er musste schnell denken
und planen, denn offensichtlich erwartete die Regentin von ihm, das
strategische Umdenken zu bewältigen. Noch fehlte ihm jedoch den
Überblick, um Entscheidungen treffen zu können.
„Was du siehst, ist es Zukunft oder Gegenwart?“
Mehana versuchte, wieder Herrin ihrer Gedanken
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